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Auf den Strassen unserer Stadt ging die Pest um. Sie war vom Landesinneren gekommen und hatte sich, zuerst unbemerkt, in die Ansiedlungen geschlichen. Zu Beginn bewegte sie sich noch leise und maskiert, wie die Räuber, die es stets in der Stadt gab. Doch nun stolzierte sie auf den Alleen, spazierte unbehelligt die Seepromenade entlang, die Türen der Häuser öffneten sich ihr ohne Widerrede, sie sass an den Stammtischen der Gasthäuser, nahm teil an den Sitzungen des Stadtrates und trug ihre Ware auf den Markt. Die Pest durchdrang die Geschäftigkeit in unserer Stadt, und an stillen Orten, da tauchte sie im Schein der Kerze auf und legte sich wie ein Gespenst in die Gedanken der Ruhenden. Wer hielt diesem Schrecken stand?

Die Geschichte über das Geheimnis der Kultur beginnt mit der Bedrohung. Die Pest herrscht, Untergangsstimmung. In diesen Anfang der Bedrohung ist jede Kultur gestellt. Historisch gesehen könnte dies heissen, dass die Natur den Menschen bedrohe und dass daraus eine Gegenmassnahme erwüchse, nämlich der Versuch, die Natur in den Griff zu kriegen und sie nutzbar zu machen.
Aber wir merken schon, dass dieser Begriff der Bedrohung unserem Empfinden nicht ganz genügt. Die Bedrohung liegt auch in der Natur des Menschen seIbst. Unsere emotionale Temperatur, unser Temperament, die Wärme unseres Lehens steigt manchmal in die Höhe, wird zur fiebrigen Hitze und droht all das zu zerstören, was uns lieb ist und uns eben gerade deswegen in Wallung gebracht hat. Wir lieben das Leben, und doch scheint dieses auf einen Untergang, einen Tod hingerichtet zu sein. Die Zeit nimmt uns jeden Augenblick wieder weg und lässt ihn verschwinden in staubigen Katakomben, zu denen wir nur Zugang haben als Museumsbesucher der Erinnerung. Ist es denn also doch wahr? Geht alles unter?
Dieser Untergang muss das Böse sein, das alles Gute, 
Aufhauende, Bewährte und Bewahrende verzehrt. Oder es ist das Nichts, das - wie ein gefallener und verdorbener Stein der Weisen - alles, was von ihm berührt wird, ebenfalls in Nichts verwandelt. Dieser Nihilismus ist die Pest. Sie kommt vom Landesinnern, aus unserem Herzen also. Von dort schleicht sich ein Gefühl in unser Leben, dass nichts Sinn macht, dass die Menschen und Dinge unserer Welt nichts sind als Positionen einer Kosten-Nutzen Rechnung und dass letztlich nichts bleibt.
Räuber, die dasjenige aus unserem Fühlen und Denken stehlen, was uns lieb und wert ist, gab es immer schon. Doch es sieht fast so aus, als ob die Pest des Nichts, die jeden Wert und jedes Wort bricht, nun leichtes Spiel und freien Zugang erhalte zu allen Bereichen unserer Welt. Das Nichts-Denken und das Nichts-Empfinden glaubt nur das, was es sieht, weil das andere keinen Nutzen hat. Die Welt und der Mensch sind aber mehr, als wie sie uns erscheinen, und an stillen Orten wird nicht nur dieses «Mehr» erlebt, sondern auch der Schrecken des Verlustiggehens einer Welt des feinen Sinns.

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