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Daniel Ambühl
Eine grosse Hitze brannte in der Stadt.
Zwei Monate fiel kein Regen auf Berlin. Heisse, staubige Morgen, wolkenloser Himmel.
Brütend von früh bis spät. Die T-Shirts klebten an der schweissnassen Haut. Der
Mauerstreifen war versengt, die Gräser früh verdörrt. Nur dichte Büschel der
Brennessel ragten wie sattgrüne Flammenbündel in den Himmel, und die wilde Möhre schien
unberührt vom Mangel an Wasser. Ihre Pfahlwurzel reichte in tiefe Schichten des sandigen
Bodens. Mit saftigen Blättern und kräftigen weissen Doldentellern erzählte sie von
ihrem Fund.
Ein Schmetterlingsjahr. Die Gaukler der
Wiesen flanierten in grosser Zahl über das Wiesenband zwischen dem Nordbahnhof im Süden
und dem Volkspark im Norden. Eine zwei Kilometer lange und fünfzig Meter breite
Paradewiese für die sonntäglich gekleideten Distelfalter, Tagpfauenaugen, Bläulinge,
Weisslinge und kleinen Füchse. Vom schweren, betörenden Parfum angezogen, bildeten die
Falter dichte Schwärme um die drei violetten Sommerfliederbüsche. Ein grosses Gedränge
herrschte an diesen Nektar-Imbisstuben im Schatten der geschlossenen Baumreihe, vor
welcher einst die Mauer stand. Durch das Spalier der Ahorne drangen die Geräusche des
Verkehrs auf der Bernauerstrasse. Vorbeiziehende Trommelwirbel der Räder auf der groben
Steinpflasterung. Unbeeindruckt davon war dieser ungenutzte Streifen Land, die Brache, mit
ihrem Leben beschäftigt. Ein vielfältige und abwechslungsreiche Wiese war auf dem kargen
Boden entstanden. So dankt die Natur für die Zurückhaltung des Menschen mit Gaben ihrer
Heilkräuter. Unbeachtet sprudelte dieser stille Reichtum aus dem Einschnitt, der Wunde in
den Wohnquartieren der Grosstadt und inmitten der hektischen Baustellen mit ihrem Gespinst
von Gerüsten und Bohrtürmen. Die Kräne fuchtelten mit ihren Armen, als wollten sie uns
darauf hinweisen, dass die Fundamente für die neue Stadt da im Sand des Schwemmlandes
verankert werden sollen und dass dies doch zwecklos sei? Ist es dieser verzweifelte
Hinweis, der uns krank macht? Könnte uns die Wiese etwas darüber erzählen?
"Alle Wiesen und Matten, alle Berge
und Hügel sind Apotheken." Paracelsus ahnte die verheerenden Auswirkungen des
Bildersturmes, der durch die Reformation fegte. Niemand traut heute mehr dem Segen der
Wiese in ihrem Reichtum an heilenden Bildern. Hätten die im zerrissenen Berlin Leidenden
doch das Johanniskraut auf dem Grenzstreifen wenigstens angeschaut! Die Gänge in die
Lagerschuppen der Medizin wären ihnen erspart geblieben.
Wer aber will Heilung als Geschenk? Damit
ist über den Ausgang der Vertrauensfrage in der Reformation viel gesagt. Die Bilder
wurden nicht mehr als heilig angesehen; darum mussten sie weg. Wenn die Augen das
Verborgene nicht mehr ahnen wollen, müssen sie geschlossen werden. So verlor nicht nur
die Wiese, sondern auch die Kirche im Umbruch die Kraft der Lebensbilder ihres Glaubens,
im tiefen Schnitt zwischen Bild und Wort. Zeichen eines Missverständnisses: die Scheu,
selber Bilder der Ewigkeit zu machen, hebt die ahnungsvolle Freude an den uns geschenkten
Bildern aus Natur und Wort nicht auf.
An diesen Grenzstreifen, in diese heilende
Wunde führten mich meine Füsse auf meinen ausgiebigen Spaziergängen. Eine wohltuende
Einsamkeit schützte die Grenzlinie. Eine Müllhalde wurde sie genannt. Verschandeltes
Schandmal. Die Passanten trauten sich nicht, in die Augen zu schauen; lieber wollten sie
nicht in die Hundehaufen treten. Der Mauerstreifen wurde gemieden. Das bekam ihm gut.
Grosses geschieht abseits des Rampenlichts, in dämmrigen, unbeachteten Ställen. Zeugen
der Freude dieser Brache waren Hunde, die da ihre Notdurft verrichteten und ihre Herrchen
an der Leine zum unnützen Grenzstreifen führten. Selbst der niedrigste Instinkt trägt
noch Hoffnung.
Die Herrchen zog es nicht zum
Grenzstreifen; ihre Hunde zogen. Der kleine Schritt vom Trotz zum Trost wird leicht
verpasst, wenn die Türe verschlossen bleibt, die Blicke nach Innen gehen und der Wiese
nicht aufgetan wird, auch wenn sie mit ihrem Reichtum als froher Botschaft anklopft.
Vielleicht scheint das Brachland der Vorstellung, die uns weismachen will, dass auf dem
Grenzstreifen nichts zu finden sei, begehrenswerter als das prächtige Brachland
Wiese selbst. Der Schein mag trügen. Die Sonne nicht.
Azita war im siebten Monat schwanger. Die
Glut der Mittagszeit machte ihr zu schaffen. Nur in frühen Morgenstunden oder zur
Nachtzeit konnten wir gemeinsam unsere wiesenschaftlichen Streifzüge unternehmen. Ich
zeigte ihr den einsamen Strauch des Wermuts, dessen Geruch sie über alles liebte. Ihr
Duft liess nicht ahnen von der giftigen Bitternis der Pflanze. Dann führte ich sie zu dem
Ort, wo ich tags zuvor in einer Ansammlung wilder Möhren die Raupe des Schwalbenschwanzes
entdeckt hatte. Fixpunkt in den Ausflügen war aber ein überaus kräftiger und stolzer
Brennesselbusch, der sich von den anderen unterschied durch seine tiefgrüne Farbe. Wie
eine Oase sass er in einem Nest dürren Grases am Rand des geteerten Gehwegs. Der Knospe,
die in Azitas Bauch heranwuchs, erzählten wir dann gemeinsam von den Raupen des
Tagpfauenauges und des Kleinen Fuchses, die hier aus ihren Eiern geschlüpft waren. Dann
kehrten wir in unsere Wohnung zurück, die sich keine hundert Meter vom Grenzstreifen
entfernt an der Strelitzerstrasse befand, im früheren Osteil der Stadt.
Mein Atelier befand sich da, im Erdgeschoss
der Hausnummer 21, genau unter unserer Wohnung. Es glich damals einem Zoogeschäft.
Überall standen Holzkästen, die mit Glaswänden versehen und mit Gazetuch abgedeckt
waren. In den Gehegen wimmelte es von Raupen, die sich emsig und unersättlich über die
angebotenen Brennesselschosse hermachten. Die Malerei war vorübergehend eingestellt. Die
Farbtuben und -dosen setzten schon Staub an. Verdutzt schauten sie von den Gestellen:
"Was soll das?" "Was hat das Ganze mit uns zu tun?" Zunächst hatte
die Zucht der Schmetterlinge aber durchaus noch mit Malerei zu tun. Schon früher hatte
ich zuweilen die Raupen des Kleinen Fuchses aufgezogen, ihre Verpuppung, ihr Ausschlüpfen
und ihr Davonfliegen beobachtet und dabei festgestellt, dass der frisch geschlüpfte
Schmetterling vor seinem Abflug ins neue Leben eine Flüssigkeit ausscheidet, ein
einzelner Tropfen nur. Beim Kleinen Fuchs hatte er meist eine tiefrote Farbe, wie von
einem schweren Bordeauxwein oder wie dunkles Blut. Blut war es aber nicht, da das
Insektenherz eine klare Lymphflüssigkeit durch die Adern pumpt. Der Tropfen war Mekonium,
Puppenharn. Der Falter schied darin alles aus, was er als Schmetterling von seinem
früheren Raupendasein nicht mehr brauchen konnte. Der Farbstoff, der im Puppenharn
enthalten war, stellte sich bei meinen Versuchen als sehr gut lichtbeständig heraus. Und
ich dachte, dass es ein schönes Geheimnis sein könnte, einmal mit diesem Puppenharn als
Tinte einen Brief zu schreiben oder ein Bild zu malen. Vielleicht schauten die Farbtuben
deswegen eifersüchtig in den Raum, der mehr und mehr das Aussehen und den Geruch eines
Stalles annahm.
Auch wurde ich zunehmend in die Rolle des
Bauern gedrängt. Die Tauben, die ab und an auf dem Fensterbrett vor dem Atelier landeten,
werden sich gewundert haben. Der Hunger meiner Raupenkühe war beträchtlich. Zur
Sicherung des Nachschubs an frischem Brennessel waren tägliche Erntezüge unerlässlich.
In deren Verlauf wurde neue Entdeckungen gemacht, von weiteren Kräutern, weiteren Raupen,
neuen, anderen Geschichten. Schliesslich züchtete ich einen Bläuling, zwei Distelfalter,
dutzende Raupen des Landkärtchens und C-Falters sowie mehrere Generationen der Raupen des
Tagpfauenauges und des Kleinen Fuchses. Ein kleines Büchergestell für die entsprechende
Fachliteratur wurde in Eile eröffnet, neue Ordner angeschafft, aber nichts ordentlich
darin abgelegt. Mein Stolz aber waren die neun Raupen des Schwalbenschwanzes. Stolz war
ihnen angemessen, da sie zu einem grossen gelb-schwarzen Ritterfalter ausschlüpfen
würden mit gebogenen Flügelhinterenden, die ihm den Namen geben. Das alles gibt es also
in Berlin Mitte.
Die bulligen, rund sieben Zentimeter langen
Tiere haben einen bedächtigen Gang, wie von einem Elefanten, die Zeichnung aber eines
Tigers: gelbschwarze Streifen auf grünem Grund. Bei Bedrohung können sie aus einer
Hautfalte über dem Kopf eine orange, stinkende Nackengabel ausstülpen, die an ein
Hirschgehörn erinnert. Die "Rüebliraupe" - wie sie in der Schweiz heisst, weil
man sie zuweilen auch auf den gezüchteten Karotten findet - besitzt ein ruhiges Gemüt.
Die meiste Zeit über scheint sie zu dösen. Wenn sie aber erwacht, verschwinden im Nu
grosse Dolden und Fruchstände der wilden Möhre in ihrem schwarzen Gemüseschredder.
Über die Beobachtungen führte ich
detaillierte Aufzeichnungen, wenngleich sie keineswegs wissenschaftlich genannt werden
dürften. Es ging nicht um das Messbare, Zählbare, nicht um das Funktionieren, sondern
immer um die Gleichnishaftigkeit des Beobachteten. Die Fragen lauteten: "Wofür steht
das Bild der Häutung im Menschen, wofür die Suche nach einem Unterschlupf, wofür die
Verletzlichkeit in diesem verharrenden Warten; wofür steht das Abstreifen eines alten
Kleides und das Erscheinen des Neuen darunter?"
Bei meinen Grenzgängen ging es um die
Beschreibungen des Vorgefundenen in seiner Gestalthaftigkeit. Inventar kann man in
Apotheken machen. Auf den Wiesen Wiesenschaft. Den Naturschutz brauchte ich nicht zu
rufen, damit ein Reservat errichtet würde. Die Natur kennt ihre Wege. Wir beleidigen sie,
wenn wir uns anmassen, sie schützen und am Leben erhalten zu müssen. Dann zieht sie sich
zurück. Ohne menschliches Zutun ist die Natur in den Grenzstreifen gekommen. Von da
vertrieben, wird sie anderswo ihre Nische finden.
In den ersten Augusttagen wurde mein
Forschen und Beobachten zunehmend fieberhaft. Es wurde mir immer klarer, dass das
Ausschlüpfen der ersten Schmetterlinge just in die Zeit fallen würde, die für die
Geburt unseres Kindes berechnet war. Azita war im neunten Monat ihrer Schwangerschaft.
Wegen der grossen Hitze konnte sie das Haus kaum mehr verlassen. Unsere Ungeduld, unsere
Vorfreuden, Hoffnungen und Sorgen kletterten in die Nähe des Siedepunktes. Der
Geburtsvorbereitungskurs war schon absolviert. Ich konnte sehr gut empfinden, was da in
den Puppen vorging, die nun zu Dutzenden an den Deckbrettern der Raupengehege hingen.
Dann geschah etwas Schreckliches. In einem
Gehege des Kleinen Fuchses hatten sich alle Raupen bereits verpuppt. Nur eine kroch noch
müde umher und machte keine Anstalten, sich auch zur Verpuppung zu begeben. Diese Raupe
frass mutterseelenalleine weiter an den Brennesselblättern, und sie wurde auch nicht
durch die Unruhe erfasst, die auf die Verpuppung hindeutete. Ein Rätsel war diese
Einzelgängerin auch deshalb, weil sich Raupen aus gleichem Gelege in fast minutengenauem
Rhythmus entwickeln, zur gleichen Stunde sich häuten, und wie auf unhörbares Kommando
von ihren Futterpflanzen fliehen, um sich zu verpuppen. Ich nahm deshalb zunächst an, es
müsste sich um eine Raupe aus einem anderen Gelege handeln. Selbst dies aber schien mir
sehr unsicher, denn die Rhythmen der Übergänge, der Häutungen und Verpuppungen sind
auch mit den Raupen anderer Schmetterlinge, anderer Herkunft und anderer Generationen der
eigenen Art abgestimmt. Verpuppt sich das Tagpfauenauge da, häuten sich die Kleinen
Füchse dort.
Was also war in diese Raupe gefahren, die
sich gegen alle Erkenntnisse als Ausnahme gebärdete? Zweite Tage später wurde die Raupe
dennoch von der Verpuppungsunruhe erfasst. Sie hetzte aufgeregt, ohne zu fressen, kreuz
und quer durchs Gehege auf der Suche nach einem geeigneten Platz zur Verpuppung.
Schliesslich fand sie sich dort ein, wo ihre Brüder und Schwestern schon seit geraumer
Zeit als Stürzpuppen von der Decke des Geheges hingen. Sie begann - wie alle anderen auch
- am Holz der Decke ein kleines Gespinst anzubringen, um sich da mit dem Fuss zu
verankern, liess sich aber nicht in Hängeposition fallen. Mit dem letzten Beinpaar im
Ankergespinst verharrte sie an der Decke.
Einige Stunden später kam ich wieder in
mein Atelier. Die Einzelgängerin war noch immer nicht verpuppt. Aber etwas anderes tat
sich da: Zwei Dutzend kleine, weisse Maden duchbohrten die Haut der Raupe und krochen
heraus. Gleich neben dem von Innen aufgefressenen, nun mageren und schlaffen Körper der
noch lebenden Raupe hüllten sich die Maden in ein schaumartiges Gespinst und verpuppten
sich sogleich. Schrecken und Faszination des Horrors. Eine Schlupfwespe hatte Eier in die
Raupe gelegt; diese wurde lebendigen Leibes aufgefressen und wartete nun in Agonie auf ihr
Ende.
So hatte ich mir die Auflösung des
Rätsels nicht gewünscht. Soviel ich auch wusste über die Natur: dies überstieg die
Schwelle des Verstehenkönnens und Verstehenwollens. Eine Wut packte mich. Ich nahm die
leblose Körperhülle der Raupe mitsamt den Gespinsten der Schlupfwespenmaden und warf sie
aus dem Fenster. Noch als die ersten Schmetterlinge heil ausschlüpften, ihren Puppenharn
ausschieden, noch als die ersten Kleinen Füchse durch das Fenster aus meinem Atelier ins
Freie flogen, war der Schrecken nicht verflogen.
Die Frage, die aus dem Schrecken drängte,
hiess: "Was ist ein Gleichnis?" In den Tagen banger Erwartung des Einsetzens von
Azitas Wehen war diese Frage nicht ohne Bedeutung. Der Geburtstermin rückte näher.
Wofür war das Beobachtete Gleichnis? Die Distanziertheit zwischen mir und dem
Beobachteten, die Distanz zwischen mir und dem Gleichnis verschwand. Der Schrecken frass
sie auf.
Am 16. August schlüpfte der erste Schmetterling der neuen
Generation aus, ein Kleiner Fuchs. Das Gleichnis erzählt nicht von der Realität. Es
erzählt von einem verborgenen Geheimnis. Alisha kam am 27. August heil zur Welt.
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