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Texte
 

Lieber Thomas

Was ich Dir im folgenden beschreibe ist ein Mittel, von dem ich nicht weiss, ob es schon existiert. Wir haben ja über die Brennessel gesprochen und über die Raupen und Schmetterlinge. Das Mittel fasst eigentlich diese Diskussionen zusammen. Es heisst Mekonium aglais urticae. Zuerst aber möchte ich mal beschreiben, was es ist.

Das Mekonium ist der sogenannte Puppenharn. Eine Ausscheidung des frisch geschlüpften Schmetterlings. Schon vor ca. 6 Jahren hatte ich bei meiner letzten Schmetterlingsbeobachtung diesen „Blutstropfen“ als etwas sehr wichtiges betrachtet. Er hat beim Schmetterling „Kleiner Fuchs“ eine tiefe, rote Farbe. Damals dachte ich daran, diesen Farbstoff einmal zum Schreiben zu gebrauchen, wie Tusche. Es war eine Zeit, als mich die Herkunft der Farbe interessierte. Wäre es nicht phantastisch, man könnte ein Gedicht mit Puppenharn schreiben?

Heute sind die ersten drei Schmetterlinge geschlüpft und die drei Tropfen haben mich an meine damaligen Gedanken erinnert. Es muss ja damals Sommer gewesen sein und ich bin nicht mehr sicher ob es der Sommer war nach meinem Rausschmiss beim Fernsehen oder der Sommer zuvor.

In der Puppe gehen riesige Veränderungen vor. Es wird da aus den Anlagen, welche die Raupe schon in sich trug der Schmetterling ausgebildet. Dass diese Anlagen schon in der Raupe vorhanden waren zeigt die Verpuppung der Raupe überdeutlich. In grosser Unruhe und ohne zu Fressen hat die Raupe ihren Verpuppungsort ausgesucht. Sie macht sich fest und wenn die Raupenhaut hinter dem Kopf reisst, windet sich die Puppe aus dieser Haut. An dieser Haut sind eigentlich schon alle äusseren Merkmale des späteren Falters deutlich zu erkennen: Die zusammengefalteten Flügel, die langen Fühler, die Hinterleibsringe ja selbst der Saugrüssel die spätere Kopfform und die Anlagen der drei Beinpaare. Die Haut verändert sich kaum während der Verpuppungsphase. Im Inneren aber werden nun die Körperstoffe der Raupe umgewandelt in die Körperstoffe des Falters. Wenn der Schmetterling sich aus der Puppe gezwängt hat, pumpt er Luft und Blut in die Adern seiner Flügel. Sie entfalten sich dann wie eine zerknitterte Luftmatratze zu einer glatten Tragfläche. Nun muss der Falter bis zu einer Stunde lang abwarten, bis die entfalteten Flügel hart werden. Er ist dann allen Gefahren schutzlos ausgeliefert. Ist das geschehen, dann entlässt er das Mekonium. Darin sind sämtliche Stoffe enthalten, die der frisch geschlüpfte Schmetterling von seinem Raupenleben nicht mehr braucht. Der Tropfen fällt zu Boden und er fliegt davon.

Mit dem Ausscheiden des Mekonium nimmt er endgültig Abschied von seinem Raupendasein.

Dieses Mittel müsste doch den Übergang in eine neue Lebensphase erleichtern. Dann wenn von der früheren Lebensform noch zuviel Balast den Abflug ins neue Leben verhindert. Die Überreste des Alten müssen ausgeschieden werden. Es sieht aus, als würde das Blut, das Leben selbst ausgeschieden. Es ist aber nur das Unbrauchbare des alten Lebens, das zurückgelassen wird. Die Bestimmung, dass aus einer Raupe ein Schmetterling werden muss ist unumstösslich. In seinem Inneren ist die Raupe schon Schmetterling. Er muss aber, um sein Leben zu erfüllen, verschiedene Häutungen durchlaufen, sich der äusseren Starrheit als Puppe hingeben, um im neuen Kleid in den Himmel zu fliegen, nachdem er sein ganzes vergangenes Leben nur gekrochen war. Vielleicht traut er sich zunächst nicht einfach wegzufliegen. Er weiss ja auch nicht, welches Bild er auf seinen Flügeln trägt, was ihn damit beschützt. Er könnte auch weiter auf den Brennesseln herumkrabbeln, da würde er aber keine Nahrung finden. Er gibt also sein Mekonium, seine Angst vor dem Neuen ab. Und mit diesem Angstbisi vertraut er seinen Flügeln und es gelingt sein erster Flug in die Lüfte.

Ich weiss, Du willst sagen, ich sollte das Mittel an mir ausprobieren. das werde ich auch tun. Du musst mir aber sagen, wie man mit dem Mekonium ein Mittel macht. Vielleicht gibt es das aber schon. Kannst Du dann mal nachschauen, was es da so heisst?

Es ist natürlich auch noch wichtig, was das für ein Schmetterling ist. Das wären dann die Feinheiten des Mittels. Dir würde ich dann das Mekonium des Trauermantels (nymphalis antiopa) verschreiben. Er lebt als Raupe auf Birken und Weiden ist aber in der Monokulturlandschaft sehr selten geworden. Er hat samtig braunrote Flügel die in einer Bordüre mit kornblumenblauen Flecken auf schwarzem Grund enden. Sein Flügelmantel endet aber in einem breiten weiss-beigen Saum. Wer weiss, vielleicht fressen seine Raupen jetzt in der Krone der Birke vor Deinem Fenster.

 

 
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