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Puppenharn Vorwort Entwurf 2 
 

Vorwort, Berlin, 19. August

 

Puppenharn

 

„Alle Wiesen und Matten, alle Berge und Hügel sind Apotheken“ Paracelsus (1493-1541)

 

Dieser Ausspruch von Paracelsus, hat mich bestürzt. Ich las ihn wieder und wieder : „Alle Wiesen und Matten, alle Berge und Hügel sind Apotheken.“ An dem Satz kann doch etwas nicht mehr stimmen? Wenn alle Wiesen und Matten und Berge und Hügel Apotheken sind, dann könnte es doch in einer Stadt wie Berlin zum Beispiel überhaupt keine Apotheken geben. Es gibt ja da keine Wiesen und Matten und Berge und Hügel. Ja, Parks wohl und Rasen. Aber Wiesen und Matten? Da denken wir doch an Alpweiden mit Dutzenden von wildwachsenden Gräsern und Blumen, Büschen und Kräutern. Den Namen von Bergen begegnet man zwar in Berlin auf Schritt und Tritt in Kreuzberg, Schöneberg, Lichtenberg, Prenzlauer Berg. Aber die Namen von Bergen sind doch noch keine Apotheken? Hat also Berlin keine Apotheken? Die Frage ist ein schlechter Witz. Es gibt hier mehr Apotheken, als ich je in einer anderen Stadt gesehen habe.

 

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Bis jetzt aber ist nur Lächerlichkeit aufgestiegen. Wir können aber sagen, dass dieses Lächerliche den Kern des Wahren sehr gut trifft. „Alle Wiesen und Matten, alle Berge und Hügel sind Apotheken.“ Alle, also auch der Prenzlauerberg, der Kreuzberg, der Monbijoupark und der Tiergarten sind Apotheken. Weshalb aber sammeln die Kräuterpfärrer nicht am Kollwitzplatz ihre Pflänzchen? Und weshalb gibt es neben diesen Bergen und Wiesen und Parks noch Apotheken, die nicht Wiesen sind und auch nicht Berge?

 

Formallogisch könnte man das eingangs gebrauchte Zitat vom Schwanz her aufgezäumen und sagen: “Wenn alle Wiesen und Matten, alle Berge und Hügel Apotheken sind, dann sind auch alle Apotheken Wiesen und Matten, Berge und Hügel.“ Schliesslich finden wir auch in Apotheken all die Kräutertinkturen und Pflanzenextrakte, Tees und Drogen von den Wiesen und Matten. Eigentlich ist eine Apotheke nichts anderes als eine Sammlung von in Fläschchen und Beuteln abgefüllten Blumen und Kräutern von Wiesen und Matten und Bergen und Hügeln. Wir müssen grosszügig sein. Auch Kopfwehtabletten von Ciba Geigy und andere chemischen Dinge sind dazwischen gereiht. Phantasie ist gefragt. Wir müssen uns eine moderne Wiese vorstellen, eine Chemiefabrik drauf, ein Hightech Labor und gleich daneben aber Wildwuchs, pure unberührte Ursprünglichkeit, voll integriert in die urchigen Bergmatten eine pharmazeutische Fabrik, die kein Kräutchen stört. Da sammeln die Kräuterpfärrer in langen Sackgewändern mit Bastkörben ihre Blümchen und wenn sie hungrig sind, essen sie in der Kantine des Chemielabors. Dort trinken auch die Laboranten den handgepfückten Bergthymiantee. Kurzum: Wir müssen grosszügig sein in einer Apotheke. Schliesslich ist auf den paar Quadratmetern die Heilkraft von Tausenden von Hektaren vereint, inklusive Industriezonen. Mit der Umkehrung der Worte von Paracelsus ergibt sich ein gewaltiges Rätsel: Geht der Mensch nicht zu den Kräutern, dann kommen sie zu ihm. Weshalb machen sie das? Und was bedeuten es, wenn die Matte ihren Ort verlässt und zum Menschen in die Stadt kommt?

 

Dass ein Kraut als Nutzpflanze wegen eines bestimmten Inhaltsstoffes für den Menschen als Heilmittel eine Bedeutung haben soll, ist ein kompliziert gemachtes, eigentlich ganz einfach zu verstehendes Märchen. Das soll nicht heissen, es wäre keine Tatsache, dass jedes Kraut eine Bedeutung für den Menschen hat. Bedeutung steigt aus dem Wahrnehmen eines Moments der Gestalt dieses Krautes auf und setzt eine Begegnung mit diesem Kraut voraus. Aber das besagt nichts über das Märchen. Das Märchen besteht darin, dass die Bedeutung aus der Begegnung zum Wesen erhoben wird. Dabei hat man aber nur eine Bestimmung, Bestimmtheit, den Sinn des bestimmten Inhaltsstoffes. Was ist aber der Zweck (Wesen)des Krauts? Doch nicht der Inhaltsstoff. Eine Begegnung ohne Blick auf den Zweck(Wesen) bedeutet nichts. Der Anlass zu dieser Begegnung muss als verborgener Kern der Bedeutung betrachtet werden, als Wesen des Krauts. Sonst wird Bedeutung zur Deutung, Bestimmung zu Stimmung und Begegnung zur Gegnung.

 

(Zweck??)

 

Zweck, Bestimmung ist nicht zu umgehen. Denn selbst in einer flachen Stadt wie Berlin kommen die Wiesen, die Matten, die Berge und Hügel zu den Menschen. Aber eben abgepackt und abgefüllt und etikettiert in den Apotheken. Jede Begegnung ist da nun „machbar“.

 

Da, wo der Mensch die lebendige Begegnung verlassen hat, und nicht mehr empfindet, dass er dafür gewählt wird, muss er selbst wählen, auswählen. Was er nicht ist im Verhältnis zu seiner Bestimmung, muss er tun. Er ist nicht mehr frei. In der Geschichte von Adam und Eva wird dies als Grundprinzip des Menschseins erzählt. Wenn der Mensch durch das Wissen seine Nacktheit sieht und sie nicht erträgt, muss er Kleider anziehen. Seine Scham wird bedeckt. Sein Sich-selbst-Nichtgenügen muss versteckt werden. Sodann ist Bestimmung immer als Spannung zu den eigenen Erwartungen mit dem Schmerz des Tuns verbunden. Bei der Frau mit den Wehen der Geburt. Beim Mann mit den Wehen des Ringens um seine Nahrung. Wenn die Selbstverständlichkeit des Lebens verlassen ist und das Leben in die Dualität einer Wertung, einer Erwartung und eines Selbstbildes kommt, dann nur zum Preis des schmerzvollen Überbrückens der Kluft zwischen Bestimmung und Selbstbild im Tun. Die Frucht vom Baum des Wissens bewirkt, dass sich der Mensch ein Bild von sich selbst macht. Nun ist er nicht nur, sondern es gibt ihn auch noch als Bild in der eigenen Vorstellung. Die Vetreibung aus dem Paradies ist Sinnbild für den Verlust der Einheit von Sein und Selbstbild. Es ist der Verlust der Unmittelbarkeit im werdenden Menschen. Nun ist der Mensch als Gottes Ebenbild in eine ständige Begegnung mit sich als Menschenbild gestellt. Himmel und Erde, Aussen und Innen sind getrennt. Mensch sein heisst nun, diese Spannung auszuhalten. Und diese Spannung gilt es aufzuheben, zu erlösen.

 

Wer nicht gewählt sein will, der hat die Qual der Wahl. Ein Erwählter stellt sich nicht zur Wahl. Der Wähler muss sich informieren, um seine Wahl zu treffen, kommt nur über Aerzte, Freunde, Bekannte zu einem Entscheid. Die Begegnung mit dem Kraut geschieht so oft über weitere Personen. Die Werbung schaltet sich ein und die Wahl bleibt schliesslich eine Frage des Vertrauens, ob da nun ein Arzt ist, ein anderer Arzt, der das Gegenteil behauptet und vielleicht noch ein Freund, der wieder etwas anderes behauptet. In dieser Wahl, die man selbst zu treffen hat, fühlt man sich dann nackt, denn die Wiese kann hier nicht weiterhelfen. Die Wiese ist ja nun einiges komplexer geworden. Zwischen den Menschen und das Kraut hat sich jetzt etwas geschoben: Es sind da andere Menschen involviert. Und Erwartungen. Nicht nur ein Apotheker, der selbst seine Kräuter sammelt. Nein, Pflanzer, Produzenten, Pflücker, Verarbeitungsmaschinen, Händler, Werber und Apotheker als Verwalter dieser abgepackten Wiesen. Und Ansprüche an ihre Produkte, Garantien, Erwartungen.

 

Der Ort wurde verlassen. Er ist beliebig. Ort der Begegnung ist nun ein Raum der Wahl. Wie eine Kirche. Man geht da mit einer Absicht hin. z.B. „Ich brauch etwas gegen meinen Husten. Ich will den Schmerz loswerden.“ Der Arzt schickt mich hin, dies und jenes zu holen. Man sagt, was man hat und es gibt immer ein Mittel für das man dankbar ist, dass man es kaufen darf. Hat man schon einen Apotheker gesehen der sagt :“Nein, gegen ihren Schnupfen habe ich nichts!“ Niemand würde sowas erwarten. Was wäre das für ein Apotheker? Man ist zu ihm gekommen, um Hilfe zu erhalten, um seinem Gebrechen etwas zu entgegnen. Darauf hat man doch Anrecht, der Apotheker ist ja dazu verpflichtet. Wenn er sich weigert, ist er nicht Apotheker und schon gar nicht Geschäftsmann. Komischerweise verlässt einem aber in einer Apotheke das Gefühl eines Geschäftes. Die Hoffnung ist zu allem bereit. Wenn mein Kind krank ist, ist der Apotheker kein Geschäftsmann, der Arzt auch nicht. Die Ebene des Materiellen Nutzens wird in der Hoffnung verlassen obwohl genau diese Absicht gesucht wird. Ein Widerspruch. Hilfe soll kommen und man will ein Mittel gegen seine Krankheit. Dass es etwas kostet und ein Mittel dafür gibt ist nicht so wichtig. Deshalb gibt es dann auch meist statt Hilfe nur ein Mittel das etwas kostet. Das Geld ist nur Ablasszahlung, dass die Krankheit vom Kinde ablasse, das Mittel ist ja nur Bote der Hilfe. Man könnte auch in die Kirche gehen, beichten, dem Priester oder gleich mit seinem Chef beten, ihn bitten. Eben nur Hoffnung!

 

Eine Wirkung braucht die Legitimation durch eine Erkenntnis nicht. Ganz absurd ist dies an der Verzweiflung der Schulmedizin zu erkennen, irgend ein materielles Geheimnis, einen Schatz, als einen reinen Stoff aus einer Pflanze extrahieren zu wollen, und diesem Stoff dann bestimmte Wirkungen zuzuschreiben. Der Stoff , das Materielle ist nur ein Kleid. Ihre Wirkung haben die Pflanzen aufgund ihres Wesens, des Ortes, an welchem sie wachsen und aufgrund der Zeit, zu welcher sie gesammelt wurden. Eine Kultivierung von Kräutern macht diese beiden Säulen der Heilkraft zunichte. Aber es sind noch andere Ebenen da, in welche sich diese Wahrheit zurückzieht. Zuletzt zieht sie sich ins Wort zurück. Und letztlich zu Gott.

 

Das Sammeln von Kräutern hat mit dem Aufsuchen der Plätze und mit der Zeit zu tun. Jedes Kraut, welches ohne menschliche Absicht irgendwo wächst, hat sich da behauptet. Es lebt da, hat sich eine Nische gefunden für sein Wachstum. Für den Menschen ist diese Bedeutung des Ortes wohl deshalb in Vergessenheit geraten, weil er selbst glaubt und sich einbildet mobil zu sein, weil er glaubt, die Zeit würde bedeutungslos. Diese Einbildung beinhaltet den Gedanken, man könnte von sich fortgehen, das eigene Sein verlassen um näher zum Selbstbild zu gelangen. Ein Ausweg aus der inneren Spannung so als wenn das zwei Punkte auf einer Landkarte wären. Und als ob man den einen Punkt ausradieren könnte, indem man sich zum andern begibt. Sein „Ort“ als das Verhältnis zwischen Selbstbild und Selbst ist in des Menschen Innersten fest und unverückbar. Er ist da die Leine zwischen sich und seinem Selbstbild. Wenn die Leine durchschnitten wird, wird sie zum Hund der unentwegt zwischen dem Selbst und dem Selbstbild hin und herrennt. (Krümelmonster)(Unklares Bild). Der Mensch kann sich aber diesem inneren Ort entfernen oder annähern. Was er mit seiner körperlichen Hülle im Äusseren tut, ist Hinweis auf sein Inneres. Die Zeit, als die Minute des Sammelns ist in vielen Kräuterbüchern technisch begründet. In den frühen Morgenstunden sollen gewisse Stoffe mehr vorhanden sein als andere. Zuweilen wird auch noch nach alten Mondkalendern gesammelt und geerntet. In Ansätzen ist also ein Empfinden für die Wichtigkeit der Sammelzeit vorhanden. Diese Empfehlungen weisen auch darauf hin, dass sich das Wesen einer Pflanze, ihre Erscheinung und also auch ihre Wirkung auf den Menschen in der Zeit ändert. In der Tageszeit und in der Zeitspanne ihrer Entwicklung. In der Signaturenlehre sind die Fragen nach dem Was, Wo und Wann weitgehend enthalten. Zum Wesen einer Pflanze gehört ihr Standort und ihr Wachstumsrhythmus.

 

Zu einem Kraut gehört eine „astrologische Konstellation“, das heisst ein Ort-Zeit-Bezug. Astrologie ist eine Möglichkeit dieses Bezuges, eine unter vielen Möglichkeiten. Dieser Ort-Zeit Bezug gehört ja eigentlich immer dazu, denn die Pflanze stammt von einem Ort und wurde zu einer bestimmten Zeit geerntet. Der Zeitpunkt des Pflückens ist die Berührung durch den Menschen. Sein Hintreten und Ernten. An einem Ort und zu einer Zeit. Das später aufbewahrte Mittel ist Erinnerung an diesen Ort und diese Zeit und diese Erwartung. (Der Wein ist Symbol dafür, aber auch die Bachblüten). Aber wahre Erinnerung zwingt zum Zurückkehren und nur das kann Trost sein. Es ist das, was Du Thomas als „Trost“ bezeichnest: Die Hinführung an den Ort Deiner bestimmten Begegnung. Durch den Griff zu Deinem homöopathischen Mittel, begibst Du Dich auf diesen Weg. Und er ist trostreich wie ein Waldspaziergang oder das Schlendern über eine Magerwiese. Die Krankheit ist nur Weg für den Hund der hin- und herrennt. (Das ist Religio, Rückverbindung.)

 

Das Medikament hilft dem Menschen, zu sich Selbst wieder in ein Verhältnis zu treten. (Kierkegaard). Dies geschieht in der biblischen Auslegung des „Heilens“ in drei Schritten, die den „Thomasschen Schichtungen“ in Natürlicher Mensch, Philosophischer Mensch, Religiöser Mensch entsprechen. Friedrich Weinreb hat hier den Link zur Homöopathie geschlagen, indem er diesen Weg als ein „Verdünnen“ im Sinne von „leicht machen“, „erleichtern“ erklärte. Die Beschwerden, das schwere Lasten der Krankheit ruft nach der Erleichterung, dem Auflösen, der Erlösung (Aufhebung).( Weinreb meint ja wohl nicht Ver-dünnen sondern Aus-dünnen! )

 

Ein Mittel muss also auch in einem auch astrologischen Verhältnis zum Menschen stehen. Das tut es immer. Ein Mittel muss ja eingenommen werden und es wird zu einer bestimmten Zeit eingenommen. Hier decken sich dann die Ort-Zeit-Bezüge zwischen Mittel und Mensch. Einnahme heisst Begegnung. Die Vorzeichen dieses Bezuges haben sich aber geändert. Das Bergwohlverleih ist vom Berg heruntergekommen und steht als Arnika im Gestell neben all den anderen, tausenden von Drogen, Mixturen, Tinkturen, Tees und Salben. Was ist da geschehen? Auf wundersame Weise ist die Welt immer ganz. Wird dem Menschen die Wiese entzogen, oder geht er nicht mehr zu ihr, dann kommt sie zu ihm. Sie hat seinetwegen ihren Ort verlassen. Weil der Mensch sie nicht mehr sucht, sucht sie ihn. Statt dass der Mensch zum Ort pilgert, wo das Kraut wächst, pilgert der Ort (im Mittel) nun zu ihm. „Medikament“ meint also das In-Bezug-treten zu einem verlassenen Ort, zu einer bestimmten Zeit. Das Kraut ist an diesem Ort und zu dieser Zeit für den Menschen und seine Erwartung ein Orakel. Eine Reise zu einem Pilgerort wird meist zu ganz bestimmten Zeiten unternommen. Ja, Wirkung ist an einem Ort überhaupt erst zu einer bestimmten Zeit möglich.

 

Das Erkennen solcher Orte ist eine menschliche Grunderfahrung. Im Umfeld von Aufklärung und wissenschaftlicher Beweiswut allerdings eine oft ziemlich verkümmerte Gabe. Der romantische Blick auf das „moderne“ Mittelalter zeigt aber als äussere Faszination auf diesen Verlust. Aus den Erscheinungen der Welt sollen Botschaften extrahiert werden, die nachvollziehbar und überprüfbar sind. Diese „Übersetzung“ scheitert ebenso wie diejenige der Medizin. Sie zerstört schon im Ansatz das, was sie zu erreichen vorgibt. Die Sehnsucht nach Verlorenem verschliesst immer die Augen für die Gegenwart des Verlorenen im Jetzt. Aber sie ahnt darunter, dass nichts verloren ist!

 

Ein ähnliches Missverhältnis besteht zwischen der Empfindung, einen Menschen gleich beim Anblick zu erkennen, und dem Versuch, daraus eine Systematik zu machen. (Physiognomie) und in eigentlich fast allen modernen Esoterik-Ritualen. Statt in ein Verhältnis zu sich zu treten wird das Heil ins Verhältnis zu einem Arzt, Führer, Sektenbruder, zu einer Lehre, einem Dogma projziert. Dieses Missverhältnis wird von Ärzten sicher oft schmerzlich erfahren. Ein Arzt kann als Arzt nicht helfen, nur als Mensch. Der Behandelnde muss also aus der Hülle, die mit Erwartungen behaftet ist, schlüpfen. Die Rituale dazu sind in Beobachtungen über Medizinmäner dokumentiert. Indem sich der Mensch als „Funktionär“ entzieht, enthebt er sich der Anmassung, heilen zu können, und tritt als Begleiter auf, der einem den Weg zum Heiligtum zeigt. In der Bibel ist es nicht der Priester, der heilt. Er ist nur Weggefährte des Kranken, sein Gegenüber, der ihm den Pfad zur Begegnung mit seinem Schicksal weist. Das ganze Besitztum des Priesters ist sein Vertrauen. Am besten ist er nicht Priester als Rolle. Sonst muss auch er zuerst aus der Robe der Erwartungen schlüpfen. Nur so ist der Versuchung zu entkommen, mit Wundern zu blenden. Ein wahrer Priester ist kein Täuscher, kein Zauberer. Der beste Begleiter ist der Enttäuscher, der, der die Falschheiten aufdeckt und die Freude über den neu gewonnen Blick auf das Wahre teilt. Im Glauben ist keine Erwartung. Deshalb muss die Erwartung, die ans Irdische geknüpft und ins Irdische gerichtet ist verdünnt werden, verdünnt werden, verdünnt werden, bis das Wesentliche freigelegt ist, das unter den Erwartungen Begrabene, Versteckte, Verborgene und beinahe Erstickte. Die Homöopathie zeigt diesen Weg auf, wie durch die Potenzierung die Erwartung an die Wirkung des Weltlichen, Stofflichen und Materiellen verdünnt und mit Schlägen zerschüttelt wird. Dieser Weg soll zur Heilung gegangen werden.

 

Immer wieder wird der Homöopathie vorgeworfen, sie entziehe sich einer denkerischen Annäherung. Ihr Prinzip liege im „Glauben“ daran und Vertrauen darauf, dass sie schon wirke. Aber selbst dann, müsste doch das Phänomen erklärbar sein. Diese Anklage versucht aber lediglich, durch Beweise eine Erkenntnis ohne Glauben zu erlangen. Gemeint ist eine „kollektive“ Erkenntnis, die im Äusseren reproduzierbar ist. Man will doch weiterkommen im Leben. Gewisse Dinge muss man ein für alle mal erledigen. Gewisse Krankheiten ein für alle mal besiegen. Der Mensch muss sich doch ständig bestätigen, dass er die Nachfahren erlöst. Er meint, darin im Leben bestanden zu haben, indem er das Paradies jetzt wieder herstelle und den Fluch des Sündenfalls selbst erlöse mithilfe seiner Erkenntnis. Die Segnung der Nachkommen heisst dann ein Erbe zu hinterlassen, durch welches eigene Erfahrungen, die als „schlecht“ oder „böse“ oder „unheil“ qualifiziert werden, den Kommenden erspart werden. Was für ein seltsame Hoffnung. Und doch wie verständlich. Aus der Menschheit ist nichts zu extrahieren, zu tilgen und auszulöschen ausser im eigenen Menschsein. Sie will den Faktor des Unerklärbaren tilgen oder ignorieren können. Es ist ja nicht so, dass es keine Erklärungsversuche gibt für die Homöopathie. Es ist aber ein Problem der Logik darin zu finden. Denn mit den Masstäben der Aufklärung, des Kantianismus und des Positivismus ist der Empfindung dieser Wirkungen nicht Geltung zu verschaffen.

 

Wir unterliegen hier dem gleichen Irrtum wie bei der Betrachtung des Darwinismus. Das abstrakte Prinzip der „zufälligen“ Mutation, die zur Diversifikation, schliesslich zu neuen Arten führe, ist zwar verständlich, entspricht aber nicht den Aussagen von Darwin. Die Welt wollte Darwin so verstanden wissen. Darwin hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit zur Anpassung im Leben selbst liegt und nicht nur im „fehlerhaften“ Sprung zur nächsten Generation. Das heisst also, dass diese Veränderungen, dieses Ablegen und Überwinden ererbter Konstanten eine Errungenschaft im Leben ist, das was als „Teschuwa“ als Umkehr bezeichnet wird. Diese Übergänge und dieses Um und Abkehren von Bestehendem sind aber mit Ängsten verbunden. Sie sind einer Pubertät zu vergleichen. Das bisherige muss in Frage gestellt werden. Selbst das Unverständnis der eigenen Eltern und die Provokation des eigenen Nestes muss dazu ertragen werden. Reifung ist immer ein Prozess der Taufe in der neuen Zeit. Das Untertauchen im Heute, das uns vom gestern trennt. Das, was daran zu verstehen ist, wurde aus seiner Lehre extrahiert, sozusagen als Wirkstoff des Darwinschen Geistes. Und mit diesem Missverständnis wurde er berühmt und werden die Kinder in der Schule geimpft.

 

Entscheidend und aussagekräftig für eine Zeit ist das, was sie in der Verkürzung und Interpretation ausschliesst, das was sie nach der Extraktion der Nährstoff ausscheidet, das Unverdauliche: Die aktive, kreative und zielgerichtete Veränderung des Lebens im Heute. Insofern sind die „neuen“ Erkenntnisse der Chaostheorie (Hyperzyklen) keineswegs neu. Ins Bewusstsein des Zeitgeistes vermag aber nur einzudringen, was diesem entspricht. Das, was ihn wiederlegt wird den späteren Generationen generös als „Neuigkeit“ und „Entdeckung“ überlassen, auch wenn dies alles alte Hüte sind. Die Macht des Zeitgeistes besteht also vorrangig in der Verdrängung dessen, was ihn selbst als blosse Verdrängung entlarvt. Diese Macht gewährt oder verweigert Anerkennung. Sie arbeitet mit den Mechanismen der Zugehörigkeit, über welche das Lebendige, das sich verändernde, das umkehrende totgeschwiegen, das Tote und Abgestorbene hingegen als Lebenskern verherrlicht wird. Deshalb leben heute die Zombies wieder und die Saurier und die Vampire. So gesehen ist die Beobachtung der Tendenzen des Zeitgenössischen immer ein Blick in den Komposthaufen unserer Zeit. Dort lagern all die abgeschnittenen, kräftigen, über Ränder und Grenzen hinauswachsenden Äste und Unkräuter, dort stapeln sich die vom Rasenmäher der Gleichmacherei enthaupteten wüchsigen Grashalme. Die Homöopathie befasste sich im Umfeld der amerikanischen und französischen Revolution mit dem Verlust des Gestalthaften. Aus dieser Abfallhalde im Garten des Gestaltlosen wuchs in gärender Wärme die Heilung für die Zeit. Es geht eben nichts verloren, kein abgesägter Ast, keine geschnittenen Heckentriebe, kein Gras und kein Unkraut verschwindet. Es ist alles immer da. Manchmal vorübergehend auf einem Komposthaufen, woraus dann die Bedrohung für den zweckmässigen Garten solange wächst, bis er sich in seinen Absichten überlebt hat und dem nicht zu bändigenden Leben des Komposthaufens ergeben hat.

 

Wir könnten auch sagen, dass Wahrheit immer Aufhebung von Macht, Moral, Gesetz, (Bestimmung)Zweck und Absicht bedeutet. Sie durchbricht sämtliche Hierarchien und Prioritäten, stellt sie letztlich auf den Kopf und wird dann von den Berechnenden, Planenden und Gesetzeskonformen als Verhöhnung aufgefasst. Letzlich ist sie immer also auch Bedrohung für die Zivilisation, wenn diese sich selbstgenügsam als etwas Absolutes versteht, als der Weisheit letzter Schluss. Die Wahrheit verlangt Demut des Geistes.

 

Nächster Abschnitt überarbeiten Wahres. Wie erscheint Wahrheit in der Zeit.

 

Wenn sie als Herausforderung zum Kampfe gesehen wird, und man sich mit ihr messen will, zieht sich der Mensch die Rüstungen des Don Quichotte an, dann sehen die Schlachten so lächerlich aus, wie die unterirdischen Mühlen der Elementarteilchen-Versuchslabors in denen in immer hysterischeren Angriffswellen und mit immer unverhältnismässigerem Aufwand, dem bekannten Teilchen immer noch Kleinere abgerungen werden sollen, um im Siegestaumel zu meinen, man sei damit der Wahrheit näher gekommen. Nein, die Wahrheit ist nicht auf dem Rückzug vor der menschlichen Erkenntniswut, sie gibt im Vertrauen auf das neue Zeichen, das sie dem Menschen in seinem Tun sendet, immer wieder etwas preis als Bedeutung, aber daraus hat sie sich dann schon längst wieder zurückgezogen. Stephen Hawkings Phantasmen von der Umfassenden Welt Theorie und das Projekt der kompletten Genalayse des Menschen, weisen beiden auf dieses Ziel hin : Der Welt die Wahrheit abzuringen. Es gibt aber in der Forschung nichts neues zu entdecken, was nicht schon längst bekannt wäre. Es werden immer nur andere Modelle für dasselbe gesucht: Für die Eroberung der heiligen Stadt, deren In Besitznahme, Besetzung, richtig handgreiflich, messbar, und beweisbar, Quadratmeter um Quadratmeter. Und hinter diesem Wunsch steckt doch das Gefühl, dass diese heilige Stadt in fremden Händen sei, entehrt durch Heiden, die zwar auch behaupten, es sei ihre heilige Stadt, die sie auch schon erobert, geplündert und gebrandschatzt hatten. Es ist schon richtig : Die Wahrheit ist unteilbar. Es sind immer genügend Motive da, um den inneren Kampf um unsere eigene Wahrheit in die äussere Welt zu verlegen, die Kinder als Söldner einer Armee zu verkaufen, um für uns das im inneren verlorene Vaterland zu erobern. Oder die Bestimmung in die Abstimmung zu veräussern. Mit feigen Stimmen der Schweigenden Mehrheit in einer Wahlurne, die erst zur Masse von Feigheit formiert, einen Apparat legitimieren, die Ängste als Wille in den Krieg zu führen, in die Schlacht, die wir im inneren zu schlagen zu feige sind. Vielleicht sogar um des Friedens Willen in den Krieg gegen den Krieg zu ziehen. Mit dem Schlachtschiff den Nutzen der Umwelt für den Menschen zu schützen im Krieg gegen diejenigen, welche die Umwelt wegen uns nutzen. Da kämpfen wir immer gegen uns. Aber aussen immer nur, wenn nicht innen.

 

Tun und Schaffen ist das Kreative, das Verwandelnde. Ein verzweifelter Versuch, die Spannung zwischen dem, was man ist und dem was man sein sollte zu ertragen. Schöpferisch ist aber das Verlassen des Tuns. Die Angst vor der Begegnung mit uns in einem Sprung zu überwinden. Wer weiss, wem wir da begegnen.

 

 

 

 
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