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Das Kennenlernen: Wiesenschaft
 

Daniel Ambühl

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Die Welt ist Gleichnis des Himmels. Wie der Mensch Gleichnis Gottes ist; in Blut und Fleisch. In unserer Welt wissen wir viel darüber, was Himmel, was Mond und Wolken sind. In der Welt, als Erscheinung, sind sie jedoch zunächst Gleichnis, und ist auch unser Wissen über die Welt Gleichnis. Das heisst, es gibt zwei Himmel: den Himmel hier in unserer Welt, in Raum und Zeit, den wir bewundern und sehen können in der ganzen Pracht seiner Erscheinungen, und den Himmel dort, als das, wofür er Gleichnis im Ewigen ist. So gibt es alles zweifach. Die Wiese hier, vergänglich und in ständiger Bewegung, und die Wiese dort, ruhend in Ewigkeit. Unser Tun hier in der Welt und das Tun, worauf es im Ewigen gerichtet ist. Denken hier und Denken dort. Liebe irdisch und Liebe himmlisch. Wissen da und Wissen dort. Doch nur zusammen sind sie überhaupt Liebe und überhaupt Wissen oder Himmel oder Wiese.

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Der Biss in den Apfel vom Baum des Wissens führt auf einen schmerzhaften Weg. Aus dem Paradies der Verliebtheit, des Aufgehobenseins im Gegenüber, dem schwebenden, traumhaften Versunkensein im Andern, erwacht der Mensch in sein Gestelltsein in diese Welt, erwächst damit in die Begegnung mit der Welt und mit Gott. Er wird vertrieben in seine Eindeutigkeit und in die Bewusstheit eines Auftrages: er selbst soll nun im Gleichnis Gottes auf Erden den Bund errichten und die Ehe vollziehen. Diesem Geschenk des Kennenlernens, der Freude und des Glücks der Begegnung mit dem Gegenüber ist aber auch Schmerz der Nacktheit Weggeselle und die Einsamkeit, in der Trennung von Gott. Das Ewige als Auftrag verbirgt sich doch im Erscheinenden. Das Geheimnis entzieht sich also dem Zugriff des Menschen, und somit ist letztlich der Auftrag dieses Lebens gleichzeitig Alles und Nichts, das Leben und das Geheimnis seines Auftrages. Die Formulierung des Auftrags ist die Welt, die für den Menschen von Gott erschaffen wurde. Gott verbirgt sich in der Welt. Diese Welt zu lieben ist Gottes Gebet an den Menschen. Es zu erhören des Menschen Auftrag im Leben.

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Leben heisst, dass beide Seite zusammen sind, Mensch und Welt, Mann und Frau, verbunden und auf festem Fundament stehend. Leben ist Werden und Wachsen und Vergehen mit der Welt und ist auch Leben mit dem Ewigen. Leben ist es nur zusammen. In der Welt scheint alles vergänglich. Das Fleisch verwest im Mondschein von Zeit und Raum. Ist es nicht wunderbar, dass dieses Gefühl der Endlichkeit, des Schreckens und der Angst vor dem Tod und der Panik vor dem Untergang der Welt sich in der Liebe verwandelt in Freude und Genuss? Ja, im Licht der Sonne ist das Fleisch das Wesentliche, ruhend im Ewigen. Ewiges ist im Zeitlichen verborgen; der Auftrag im Erscheinenden ist versteckt als Geheimnis. Das Erscheinende weiss selbst nichts von ihm. Es ahnt lediglich, dass es da ist, und es soll dieses Geheimnis hüten - pflegen und schützen - und ihm treu sein. Im Verhältnis zu seinem Geheimnis ist der Mensch selbst Garten Eden.

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Das Himmlische benutzt nicht das Irdische, um es nachher achtlos in den Staub zu werfen. Die Welt ist nicht nur Mittel als Zweck des Ewigen; die Welt selbst ist ewig. Es geht nicht allein um den Auftrag des Lebens, es geht um das Leben selbst. Das Wesentliche ist dem Verwesenden ewig treu. Die Welt ist keine Bestrafung, kein Gefängnis. Die ewige Seele erlebt in der Ehe mit dem Körper die Freude der Fleischwerdung. Um diese Liebe ringen die beiden miteinander. Für diese Freude wurde ihnen die Welt geschaffen. So wie hier der Körper die Seele trägt, trägt der sie dort den Körper.
Leben kann sich nicht selber vergewissern. Ob man liebt oder geliebt wird, kann man nicht wissen. "Das Abendland hat viele Wissenschaften und versteht, auch das Kleinste zur Wissenschaft zu machen", schreibst Ernst Jünger in seinem Essay Messbare und Schicksals-Zeit, "aber es fehlt ihm die Wissenschaft vom Glück." Wenn jedoch etwas Antrieb zur Wissenschaft ist, dann eben dieser Wunsch, glücklich und mit der Welt versöhnt zu sein. Die Wissenschaft ist als solche dann Trägerin der Sehnsucht nach Liebe in der Suche von Antworten auf die Fragen der Welt. Wenn die Wissenschaft meinen sollte, selbst Glück schaffen zu können, dann hat sie ihren Auftrag und ihre Sehnsucht vergessen.
Über den Schmerz nachzudenken meint ja zunächst nicht, ein Schmerzmittel herstellen und verkaufen zu können. Die Frage des Schmerzes will beantwortet sein. Das Schmerzmittel ist keine vollständige Antwort. Es mag diese im Verborgenen tragen, ist aber selbst nur ein Vertrösten, eine Krücke und Ablenkung, so dass der Schmerz erträglich wird, bis die Antwort kommt. So ist auch der Bau einer Rakete, eines Raumschiffes und die Landung auf dem Mond keine Antwort auf die Anfrage des Mondes. Der grossartige Umweg und das beeindruckende Spektakel um den Mond, die Gefühle des Menschen, mag zwar eine Antwort im Verborgenen tragen. Wie aber soll sie vernommen werden in der titanischen Macht-Demonstration der eigenen Leistung? Ist sie nicht darauf angelegt, den kleinen, bescheidenen, direkten Pfad zum Mond zu verdrängen? Wenngleich: Auch Umwege gehören zur Liebe.

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Wir sind unserem Wissen egal. Es kann uns in dieser Welt nicht begegnen. Das Wissen könnte uns aber eine Begegnung ermöglichen mit dem in ihm Verborgenen - dann aber enthoben aus der Zeitlichkeit und ihren Zwängen, Zwecken und Wertungen. Das einzige, was man von der Liebe zur Wissenschaft in dieser Welt gebrauchen kann, ist die Liebe. Alles andere bleibt als Geheimnis des Tuns und der Begegnung im Ewigen verborgen.
Wissenschaft ist der Wille, der Welt eine Antwort abzuzwingen, mit eigener Leistung abzuverlangen. Ihr fehlt in ihrer Eigenmächtigkeit aber das Gehör für das Verborgene, das sie trägt. Wiesenschaft würde bedeuten, diesem Verborgenen in der Welt, aber auch dem Verborgenen im eigenen Wissen, zuzuhören. Der Wiesenschafter unterliegt nicht mehr den Zwecken seiner Forschung, sondern der Freude an der Begegnung mit dem Umforschten. Der technokratische Wissenschaftler verzweifelt in seiner Angst vor dem Verwesenden. Seine Verzweiflung, die Verwesung nicht aufhalten zu können, lässt ihn diese an seine Zwecke binden. Sein Trost wäre die Wiesenschaft, die Wissenschaft vom Glück.
Ein Wissenschafter möchte doch ein Liebschafter sein. "Philosoph" als Liebender der Weisheit. Nach Jesus, dem Liebschafter, wird auch fast nur noch in Zeit und Raum geforscht und gegraben, von Archäologen und Historikern. Suchen sie nicht nach der verlorenen Gestalt des Liebschafters, des Wiesenschafters? Die Grube, in die sie in ihrer äusserlichen Suche zu fallen drohen, lässt sich jedoch mit noch sovielen Forschungs- und Zeitungsberichten nicht auffüllen. Den sie in der höllischen Hitze des Wüstensandes suchen, fänden sie im Herzen. Die Schufterei ist ihr Trost, bis sie seine Antwort aus ihrem Verborgenen hören. Manchmal übertönen die lauten Maschinen, das Hämmern der Pressluftbohrer und das Knirschen der Raupenbagger seine Stimme. Aber auch der Lärm und der Trotz gehören als Umweg zur Stille der Liebe.
Dem Liebschafter zu begegnen ist dann aber, nach dem Streit und der vergeblichen Mühe, zunächst eine herbe Enttäuschung: "Mit Milliardenaufwand und tausenden von Maschinen und Menschen und Forschern und hunderttausenden Büchern und Streitgesprächen haben wir nach ihm gesucht. Nun kommt er da einfach um die Ecke? Lieber blamiere ich mich weiter, als dieses anzunehmen." Kein Trotz und keine Zwängelei hält aber dem Liebschafter stand, solange noch ein Funken Leben im Menschen ist. Das Empfinden dieser seiner Beständigkeit ist nur mit Optimismus einigermassen verständlich ausgedrückt.

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Die Gefährdung des Menschen durch Verwechslungen von Zeitlichem und Ewigem verantwortet sein Ewiges. Die Antwort ist aus ihm schon gegeben. In der Welt ist Antwort immer unterwegs zu ihrer Frage. Ein offenständiger Mensch wird auch solchen Antworten die Tür öffnen, die er nicht bestellt hat. Meist lernen wir ja die wirkliche Frage erst kennen, nachdem wir der Antwort begegnet sind. Und meist erschrecken wir dann auch zuerst einmal. Das verborgene Wesen ist über unsere Bewusstheit hinaus verantwortlich. Die Verantwortung des Menschen ist die Vernunft Gottes. Und die Vernunft Gottes hat ihren Sitz im Menschen, als Liebe, als Treue.
Der Versuch des Menschen, Antworten auf Fragen der Welt zu geben, beinhaltet aber vielfältige Möglichkeiten der Verwechslung. Wie Haare wachsen solche Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten auf dem Haupt des Menschen. Mal als düstere Katastrophen und mal als bunte Phantasien, dann wieder als bunte Katastrophen und düstere Phantasien. Sie erfüllen seine Welt und möchten auf ihren Ursprung und ihren Auftrag hinweisen. Als blosse Unterhaltung ist Vielheit ein überfüllter Bahnhof an einem Ort, wo kein Zug fährt; sinnlose Warterei. Es hilft dann auch nicht, aus den Möglichkeiten der Verwechslung bessere und schlechtere zu unterscheiden. Die Gemeinsamkeit aller Möglichkeiten der Verwechslung ist die Vorstellung eines Gottes nur ausserhalb des Menschen. Gott als Vater im Himmel wird mit einer Regierung hier verwechselt. Wir können ihn so, als eine Macht ausserhalb von uns, aber nicht lieben. Ja, anbeten schon, fürchten erst recht; aber was ist Liebe, die als Alternative noch Furcht ist? Furcht will stets von Wunder beruhigt sein. Doch das Wunder trägt eine Versuchung in sich: es könnte zum Zweck der Liebe werden.

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Vom Glück kann ich nichts wissen. Das Schrecklichste, was uns geschehen könnte, wäre, wenn wir alles, was wir denken, genau so tun könnten - wenn also unser Wille geschähe und nicht Sein Wille. Wir wissen aber doch einiges. Ja, unglaublich viel wissen wir und bauen darauf in unserem Tun. Wir alle sind leidenschaftliche Forscher in der Wissenschaft vom Glück. Jeder für sich. Auf alle Wissenschaft könnten wir verzichten, wenn wir vom Glücke wüssten. Wissen aber gönnt kein Glück, sondern nur Bestätigung. Für uns mag Bestätigung manchmal wie Glück erscheinen; Glück bedroht aber das Wissen in seiner Kausalität, indem es diese durchbricht. Als Überraschung.
Glück kann man nicht untersuchen, nicht messen, nicht züchten. Man kann es nur geniessen, annehmen und zu sich nehmen. Verbrochenes wächst an dem Ort zusammen, wo es brach. Schnitte heilen in der Wunde, die sie im Fleisch hinterlassen.
Die Schöpfung ist vollkommen, bereit für den Besuch unseres Lebens. Gäste sind wir. Willkommen. Die Welt empfängt uns, und wir empfangen sie. Man möchte sich in dieser gemeinsamen Mahlzeit am Tisch des Schicksals kennenlernen.

 

 
 

Copyright: Daniel Ambühl  Steintisch Verlag Zürich

 

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