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Das Zusammenwachsen: Kulturschaft
 

Thomas Primas

 

1

Als ich jung war, so viel jünger als heute, sass ich manchmal an der Bahnhofstrasse in Zürich und beobachtete die Leute. Es war wirklich grosser Bahnhof dort, und ich durfte Zuschauer sein. Das Faszinosum - um dieses scheussliche Wort auch einmal zärtlich gestreichelt zu haben - das Faszinosum dieses Schauens lag darin, dass die Leute doch irgendwie alle Menschen waren; jeder mit seinem eigenen Aussehen und Einsehen, seinem eigenen Herkommen und Fortgehen, seinen eigenen Wünschen und Traurigkeiten. Sonderbar kam mir das vor, dass alle derart in sich gesondert, abgesondert und abgeschlossen ihre Wege gingen - schon an ein Ziel hin, zu einem Geschäft, zu einem Menschen, doch undurchsichtig für meinen Blick und undurchsichtig für den Einzelnen manchmal auch. Ankommen wird jedoch auch der Absichtslose; Wege führen immer an ein Ende, auch wenn es scheint, dass niemand dorthin gehen will.

Die Menschen sind undurchsichtig, stehen in sich um die Ecke für den Blick von Aussen. Für den Blick von Innen sogar auch. Diese Undurchsichtigkeit der Einzelnen passierte meinen gemütlichen Sitzplatz an der Bahnhofstrasse in einer Vielheit und Vielfalt, dass einem das Sehen und Staunen vergehen konnte. Dazu kam noch diese Undurchsichtigkeit zu den anderen Strassen hin, zu den Bahnhofstrassen anderer Dörfer und Städte, zu all den Bänken, auf denen ich nicht sitzen konnte; zu all den Menschen und Wegen, die früher gingen und begangen wurden, auf ein Ende hinführend, das vor meinem Anfang liegt.

Grosse runde Welt. Ihre Nach-Aussen-Gekehrtheit täuscht; es ist, als würden die kleinen Häuschen und schmalen Strässchen alle leer sein, das eigentliche Leben sich in der Kugel drin abspielen, in sich gekehrt, abgesondert, im Grunde einsam. Und einsam auch im Umgang mit dem Anderen. Vielleicht ist es ein Umgang um den Anderen - im Umgehen ihn belauernd, spähend, ob wohl ein Schlüsselloch in seiner Undurchsichtigkeit zu finden wäre.

Später hatte ich ein gleiches Gefühl bei längeren Fahrten mit dem Zug - als wenn sich der Eindruck dort an der Bahnhofstrasse nun in den Zug gesetzt hätte und sich auf den Wegen in der Welt wiederfinden wollte. An wieviel Dörfern, Städten, Wäldern fährt man nicht vorbei! An wieviel Dörfern, Städten, Wäldern fährt man nicht vorbei?

Wieviel können wir halten, fassen von dieser Vielfalt? Sie fliesst uns davon, sie überfliesst und überflutet uns. Sintflut. Das alles gibt es also. Doch was soll ich denn damit; ich kann nichts halten. Und ich komm nicht in den Kern hinein. Das alles gibt es also und ist undurchsichtig.

 

2

Warum betrifft uns diese Stimmung so; sie könnte uns doch auch gleichgültig antreffen. Wir haben doch genug mit uns zu tun. Unsere Saiten aber sind auf eine Art gestimmt, dass uns diese Vielheit fasziniert, bezaubert. Sie interessiert, sie beschäftigt uns; wir möchten ihr begegnen. Doch so einfach ist das nicht. Die Vielheit ist zu viel für uns; wir können sie nicht fassen.

Die Welt ist wie ein grosser, dunkler Wald; undurchsichtig in seiner unendlichen Vielfalt. Wir sehen vor lauter Dinge die Welt nicht mehr. Sie ist doch mehr als die Vielheit ihrer Dinge; sie ist die Einheit dieser Dinge. Das Wort "Welt" ist zusammengesetzt aus "Wer", der Mensch (wie in Werwolf), und "alt", das Wachsen (wie in altern). Die Welt ist also das Wachsen des Menschen. Was wächst aber am Menschen? Schon auch sein Körper, seine Erfahrung, sein Wissen; dieses Anwachsen scheint aber eher dafür nützlich zu sein, um den Bedrohungen der Welt zu entgegnen. Bedeutet sein Wachsen nicht, dass er mit der Welt zusammenwachsen möchte? In ihrer ganzen Vielheit?

Die Welt bedroht uns aber mit ihrer Vielheit. Sie macht uns Angst wie ein grosser, dunkler Wald. Ist diese Angst nicht ein Ausdruck unserer Sehnsucht nach Einheit? Nach einer Einheit, die doch nur Ewigkeit sein kann, die alles in ihre liebevolle, gerechte Ordnung fasst. Die Ewigkeit ist ganz nah; sie gönnt uns diese Ordnung schon hier als Zeit. Denn die Zeit in ihrem Fluss schenkt uns Teil um Teil der Vielheit hin auf unseren Tisch als Mahlzeit, die Schicksal ist. Um der Begegnung ind er Gegenwart Raum und Aufmerksamkeit zu gönnen, verbirgt die Zeit einen ganzen Teil der Vielheit in die Vergangenheit und Zukunft. Dort ist sie dann verborgen, aber auch geborgen. Denn die Ewigkeit durchwirkt als Zeit die Welt. In der Ewigkeit ist alles hier geborgen, wie ein Schatz, der im Silbersee der Seele schlummert, dort schon ganz geborgen, aufgehoben ist.

In der Gegenwart der Zeit steht der Mensch; er ist dort lebendige Grenze. An eine Seite grenzt das Verborgene - Zukunft und Vergangenheit. In diese Richtung kann er hoffen, glauben, lieben, sich erinnern. An die andere Seite grenzt die sinnlich offenbare Gegenwärtigkeit.

 

Grenzen können aber auch geschlossen werden, so dass der freie Fluss unterbrochen, Begegnung und Austausch verunmöglicht wird. Die Grenze ist wie eine Haut: in einem Sinne schützend, so dass eine eigene organische Mitte gewahrt wird und ein Zusammenhalt als Identität bestehen kann. Doch die Haut pflegt auch Austausch, ist Verbindung von Innen und Aussen. Ihre Poren muten wie Fenster an, durch die Nahrung hineingereicht und die schmutzigen Teller wieder herausgestellt werden. Und ist die Haut nicht auch eine grosse Wiese zärtlicher Begegnung - wie ein Tisch, an dem seelische Nahrung geteilt wird?

Wir können streicheln, aber auch streichen, ablehnen, zurückweisen, verdrängen. Das Durchgestrichene ist dann abwesend in unserem Wahrnehmungsfeld. Wir sind es zuerst einmal los - und das ist auch gut so manchmal. Denn wer erträgt schon die ganze Vielheit? Sie würde uns ertränken in ihrem Überfluss. Wir müssen auswählen, ordnen. Mit diesem Ordnen weisen wir den Dingen der Vielheit einen Ort zu in unserer Welt, so dass sie ihre Bedrohlichkeit verlieren. Und manchmal - oder sogar oft - liegt dieser Ort in der Verborgenheit. Wir scheinen sie dann dort vergessen zu haben, aus unserer Erinnerung verdrängt und gestrichen. Alles ist aber an seinem Ort und wartet auf uns; es mag uns nicht so recht verlassen. Nach dem Kreuz als Zeichen des Durchgestrichenen scheint uns stets eine Auferstehung zu drohen.

Auferstehung ist ein Zeichen der Ewigkeit. Sie kann hier nicht gegenwärtig sein. Sie kommt als Traum zu uns, beschenkt uns als Überraschung, als Ausnahme. Sie ist kein Gesetz dieser Welt, sondern der Durchbruch einer anderen Welt. Doch was steht denn auf, wenn die Ewigkeit durchbricht? Ist es nicht diese Welt, unser Leben hier, unsere Begegnungen und Hoffnungen hier? Es steht auf, was in dieser Welt gelegen hat; was uns an dieser Welt gelegen ist.

Die Verborgenheit beschäftigt uns: Zukunft und Vergangenheit. Wir hoffen und erinnern uns. Doch auch das Offenbare beschäftigt uns, die Gegenwart, in der wir leben.

Was haben wir denn zu schaffen mit dieser Vielheit? Machen können wir sie ja nicht; sie ist bereits da und tritt an uns heran. Das Beschäftigtsein mit der Vielheit scheint etwas mit dem Schaffen von Ordnung zu tun zu haben. Oder mit Unordnung und Verwirrung. Thora und Babylon.

Daniel Ambühl schrieb einmal: "Sagt nicht Chaos zur Vielfalt!" Das ist richtig. Doch die Vielfalt darf auch nicht in Babylon wohnen, wo sich niemand mehr versteht. Dort wird nur mehr die Unterscheidung kultiviert, die Abgrenzung. Das ist gut und wichtig; nur der Sonderbare ist ein Mensch. Doch soll es eine Trennung zur Verbindung sein - so, wie es das fünfte hebräische Zeichen "He" ausdrückt, als Zeichen des Kindes, des erhofften Lebens: als Kind Mann und Frau verbindend; als Hoffnung Verborgenes und Offenbares. Das "He" heisst "Fenster"; es sieht als Schriftzeichen aus wie ein geschlossener Raum, der aber ein Fenster hat. Gesondert, aber offen zum Anderen hin, das uns zuruft: "He, Du!" und dem wir dann mit zarter Freude zurufen: "He, Du!" Und ist die Schöpfung nicht auf diesem Fundament und als dieses Geheimnis geschaffen worden, dass diese Freude des Zusammenkommens möglich sei?

Leben könnte sein so. Habe ich mich an der Bahnhofstrasse nicht still danach gesehnt, einem dieser vorbeigehenden Undurchsichtigen zuzurufen: "He, Du, ich bin da, und ich hab es doch gesehen, Du bist dort." "Und nun?" "Nichts, ich wollte es nur sagen. Es hat mich gefreut." Und hab ich im Zug nicht aus dem Fenster geschaut und gehofft, dass die Stille dieses Ortes und jenes Ortes in meine Bewegtheit hineinstiege, ganz innig würd in mir, nicht verstreut auf dem weiten Feld des Vorbeigezogenen, sondern gesammelt in meinem "Da" und in der Freude meines "So". Wir wären doch dann zusammen. Und wäre dieses Zusammensein nicht Same vom Baum des Lebens, der schon ist und dann auch wachsen könnte, zusammenwachsen könnte mit unserem Lebensgefühl des "He", des gehofften Lebens?

Denn wir wissen, der Zug fährt weiter, die Bahnhöfe, an denen andere Sehnsucht sitzt, ziehen vorbei, unberufen, unbeantwortet. Das Zusammenwachsen mit der ganzen Vielfalt des Daseins, des Irgendwoseins, des irgendwann Werdenden und Gewesenseins, das Zusammenwachsen ist nicht wirklich möglich hier, ist nicht wirklich hier. Oder sehen wir die Wirklichkeit immer zu einseitig? Ist sie etwas, das auch eine andere Seite hat? Die Welt und die Menschen in ihr sind doch undurchsichtig. Wir erwarten stets Dünkel hinter dieser Undurchsichtigkeit. Vielleicht, wer weiss es schon. Könnte dahinter nicht auch diese andere Seite verborgen sein? Und könnte dort dieses Zusammenwachsen nicht bereits geschehen? Verborgen, weil dieses Zusammensein nicht begreifbar ist, weil es nicht begriffen sein will; weil dieses Zusammensein dort etwas derart Schönes und Wunderbares ist, dass wir es nicht fassen könnten. Wer erträgt schon Wunder? Jesus antwortete auf das Begehren nach Zeichen und Wunder mit dem Hinweis auf das Zeichen und Wunder Jonahs: das ist die Verborgenheit. Denn genauso wie Jonah drei Tage im Bauche des grossen Fisches verborgen war, wird auch Jesus drei Tage im Grab seines unbegreiflichen Todes verborgen sein, und genauso ist doch auch die Erlösung, die schon ist - das Zusammensein - verborgen noch unter der Oberfläche des Undurchsichtigen, träumend im Schutz geschlossener Augen.

 

3

Was bleibt, ist die Oberfläche, die Haut. Ist sie nicht auch Grenze wie der Mensch? Werfen wir nicht den Kern weg, wenn wir einen Pfirsich essen? Wir werfen ihn in die Erde, wo er wieder wächst. Er ist dort Same für neues Fleisch. Der Same ist doch der in die Erde gefallene Himmel. Und dort wächst er heran zu Fleisch, wächst er in das Fleisch hinein, wächst mit ihm zusammen. Das Fleisch des Pfirsichs ist deshalb doch auch der fleischgewordene Same, der fleischgewordene Himmel. Das Gewordene des Himmels, des Kerns und Samens schmeckt uns in seiner Süsse und Saftigkeit.

Friedrich Georg Jünger beschreibt in seiner Erzählung "Pfirsiche", wie sich ein kurzgemeintes Liebesabenteuer ganz unversehens sehnt nach dem Zusammenwachsen, nach der Langsamkeit eines Sich-Kennenlernens, nach Dauer und ihrer Treue. Die Liebe sehnt sich nicht nach dem Kern; sie hat und ist ihn schon. Nein, sie sehnt sich nach dem Fleisch, nach dem Saft des Pfirsichs und seinem weichen Rund, wie er in der Hand dann liegt wie die ganze Welt.

Dieses Fleisch beschäftigt uns, diese Oberfläche. Sie ist undurchsichtig zu ihrem Kerne hin; er möchte verborgen sein, denn er weiss, er ist schon allenthalben.

"Das alles gibt es also." Das ist das erste Motto, das Ernst Jünger seinem Buch "Das Abenteuerliche Herz" voranstellt. Er staunt darüber, dass etwas da ist und freut sich. Er sagt nicht: "So ist es also." Nein, denn das möchte er wie ein intimes Geheimnis als Geschenk erhalten. Und auf das Vertrauen in dieses Geschenk weist er uns im zweiten Motto dieses Buches hin, ein Zitat von Hamann: "Den Samen von allem, was ich im Sinne habe, finde ich allenthalben."

Was wir im Sinne haben, ist dieses Fleisch, ist die Oberfläche, die Haut, die wir streicheln möchten, mit ihren Poren als Fenster, aus denen Ersehntes ruft: "He, Du, da bin ich, zusammen schon mit Dir, doch dies soll verborgen sein. Ich möcht mit Dir zusammenwachsen. Ich weiss doch, im Streicheln streichst Du Dich, streichst Du auch den Wunsch, selber Haut zu sein, die auf meine Hände wartet."

 

4

Wenn wir die Vielfalt des anderen Menschen und der ganzen Welt nicht in Babylon wohnen lassen, dann sehnen wir uns nach dem Zusammenwachsen mit ihr. Wir wollen verstehen, und die eine Sprache jenseits von Babylon ist doch die der Freundschaft, der Liebe. Diese eine Sprache versteht, in ihr blüht Freundschaft auf. Und wenn wir dieses Blühen - wie im Garten Eden - schützen, pflegen: kultivieren, dann könnte Kulturschaft sein; Zusammenwachsen mit der ganzen Fülle unserer Welt.

Doch es ist einfach so nicht möglich. Wer erträgt schon die ganze Fülle der Welt auf einmal? Wer kann sich schon mit allem gleichzeitig beschäftigen? Beschäftigung und Vielfalt sind aufeinander hingeordnet, einander zugeordnet. Beide haben etwas mit Ordnung zu tun.

Die Vielfalt trägt eine Ordnung in sich, wie das Chaos doch auch schon eine Ordnung in sich trägt. Daniel´s Satz stimmt immer noch: "Sagt nicht Chaos zur Vielheit." Denn im Aussprechen, durch das Wort wird eine Ordnung sichtbar, in die die Vielheit gestellt ist. Diese Ordnung nennen wir Zusammenhang. Der Zusammenhang erst macht ein Zusammenwachsen möglich. Dadurch, dass ich am anderen Menschen hänge, an der Welt und ihren vielfältigen Ausdrucksformen hänge, sehne ich mich danach, mit ihnen zusammenzuwachsen. Und dort, auf der anderen, verborgenen Seite, sind wir doch schon zusammen. Die Ordnung kommt von dorther. Es ist die Ordnung des Zusammenseins, die für das Zusammenwachsen Gründe legt.

Jede Beschäftigung ist auf die Vielheit ausgerichtet. Sonst wird´s uns langweilig, werden wir mit der Beschäftigung, die wir auszuführen haben, einfältig. Fliessband. Doch wir suchen ein anderes Band, das die Vielfalt nicht einfach an uns vorbeiziehen lässt, noch einen Handgriff von uns abverlangend, sondern uns mit dem Anderen verbindet, ein Bund mit ihm erlaubt, der das Fliessen der Zeit bändigt, Dauer schenkt und Treue. Auch hier wieder Zusammenhang, der Zusammenwachsen möglich macht.

Beschäftigung ist auf das Schaffen von Ordnung ausgerichtet. Denn dann ist erst eine Begegnung mit der Vielfalt möglich, die uns weder in der Sintflut des Anwesenden versinken lässt, noch uns in ein babylonischen Unverständnis gegenüber dem Gestrichenen, dem Abwesenden, verbannt.

Ordnung können wir jedoch nicht selber schaffen; sie ist bereits da, wie die Vielfalt. Beschäftigung ist als das Schaffen von Ordnung Pflegen und Schützen: Kultur. Sie ist der Vollzug der Sehnsucht nach dem Zusammenwachsen. Doch es ist auch möglich, dass der Mensch an einen Punkt kommt, wo er diese Sehnsucht nicht mehr ertragen kann. Vielleicht wird er ungeduldig, will sofort Ergebnisse sehen, und zwängelt, zwingt dann auch. In der Kultur liegt stets die Gefahr von Kain, der Ordnung durch eigene Leistung schaffen will. Alle Kultur ist geprägt von diesem Verhältnis von Kain und Abel. Jede Kultur benötigt deshalb einen Begriff von Kain und Abel, so dass die Brüder versöhnt sein können. Es mag ein Traum sein; diesen Traum könnte man Kulturschaft nennen: Freundschaft von Kain und Abel als Kultur.

 

 
 

Copyright: Daniel Ambühl  Steintisch Verlag Zürich

 

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