|
Thomas Primas
Es war ein bösartiger Anschlag auf meine
Gemütsruhe, als Daniel Ambühl eines Tages des jungen Sommers die Skulptur auf den
Fenstersims hinter meinem Schreibtisch stellte. Da stand sie nun, und ich konnte nicht
anders als mit ihr zu sprechen. Doch Antwort gab sie keine; sie hüllte sich in Schweigen.
War das eine Antwort schon?
Ich habe ein fast blindes Vertrauen in die
Kunstwerke Ambühls, dass sie uns auch etwas zu erzählen haben. Blind ist gut: nach einer
ersten Betrachtung muss man die Augen schliessen, um das Verborgene zu sehen. Oder wie es
Karin Wiedmer ausdrückte: "Die Taube gibt Fernsicht. Von überall in der Welt
losgelassen, findet sie den Weg zurück ins Taubenhaus und bringt als Brieftaube ihre
Botschaft aus der Ferne nach Hause. Auch für Noah fliegt sie weit und bringt als Zeugnis
des sichtbar gewordenen Landes den Ölzweig im Schnabel zurück. Allerdings erst beim
dritten Mal; täuscht doch oft der erste Blick, weil er zu flüchtig und der zweite, weil
er zu genau ist. Erst der dritte Blick ist absichtslos, und ihm fällt das Gesuchte
zu."
Doch was ist eigentlich das Gesuchte? Was
suche ich in einer solchen Skulptur? Sie ist weder aussergewöhnlich schön, noch
besonders hässlich. Sie steht aber da und scheint mich etwas zu fragen. Ich wollte eine
Antwort von ihr und merke erst, dass sie mir nun selber eine Frage stellt. Ihre Frage
jedoch ist noch verhüllt, wie eine keusche Frau in den Gewändern ihrer Geschichte, die
sie zuerst erzählen möchte, bevor man sie begreifen darf.
Eine Skulptur wie der
"Puppenharn" ist eine Chiffer. Sie sehnt sich schon nach dem Begriff, doch
dieser muss einen Weg erst gehen, bevor er zu ihr kommen kann. Der Weg ist schön; der
Begriff darf nicht ungeduldig sein. Und er soll der Chiffer auf ihren Wegen folgen.
In einer Bild- oder Skulpturbetrachtung
geht es nicht darum, die Chiffer einfach zu begreifen, einen Begriff dafür zu finden. Wie
Mann und Frau sich nacheinander sehnen, sehnen sich auch der Begriff und die Chiffer
nacheinander.
Eine Chiffer beschreibt und erzählt die
Geheimnisse der Welt - in Geschichten und Gleichnissen, in Bildern und Skulpturen. Durch
sie versucht man zu verstehen, und verstehen heisst doch: das Stehen an einem Ort
aufgeben, auf einen Weg gehen, um eine Mitte, die man ahnt. Gemeint ist damit der
Verstand, man könnte sagen: das Denken als Weg.
Ein Begriff fasst die geheimnisvollen
Verhältnisse der Welt, die sich uns als Chiffern zuerst nähern. Er sucht den
vernünftigen Zusammenhang in diesen Chiffern, um sie wahr zu nehmen. Denn Wahrheit bindet
uns, fordert den Menschen auf zur Antwort und zur Stellungnahme. Gemeint ist damit die
Vernunft, man könnte sagen: das Denken als Ort. Ohne Vernunft gibt es keine Treue und
gibt es keinen Ort und Sinn, der uns an sich bindet. Der Begriff trägt die Frage in sich
mit, die ihm von der Chiffer angetragen wurde, und trägt sie zu uns Menschen.
Das Sehnen von Begriff und Chiffer
nacheinander wird nun klarer: sie brauchen sich, um nicht leer und unerfüllt zu sein.
Wenn die Chiffer keinen Begriff mehr findet, wird sie zum Zeichen an der Wand, das niemand
mehr versteht; keine Mitte ist dann mehr zu ahnen. Wenn der Begriff von keiner Chiffer
mehr angezogen, umkleidet und verführt wird, dann wird er starr und bröcklig; Frage, die
keine Antwort findet, denn Antwort ist doch Leben, Lieben, Geschichten sich erzählen vor
dem Feuer im Kamin.
Das hebräische Wort für Hölle drückt
diesen Zustand aus: sie ist eine Frage, die keine Antwort finden kann. Die Chiffer ist die
Antwort schon, wie der Puppenharn, wie die Skulptur. Doch zuerst muss sie der Mensch
begreifen, so dass sie wirklich Frage ist; dann kann sein Herz ihr Antwort geben, dort, wo
es sich sehnt und hofft und liebt und singt.
Das ist dann die Freude, die in der Antwort
liegt. Das hebräische Wort für Erlösung ist das gleiche Wort wie Freude. Antwort ist
wie eine Erlösung, wie der Mensch doch ist wie Gott. Kleine Erlösung, kleiner Gott. In
der Antwort träumt die Erlösung schon, im Mensch träumt Gott. So ist auch die Kultur in
ihrem Sprechen, Bilden, Singen, Denken, Fühlen, Tanzen um den heissen Brei doch eine
Träumende. In ihr träumt noch dieses Ganz-zusammengewachsen-Sein, träumt noch dieses
Ganz-sich-kennengelernt-Haben. Und träumt vielleicht von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Eine Erlösung, eine Ewigkeit möcht ich
nicht, in der ein Weg ganz und gar veschwunden ist; ohne Geschenke auszupacken, die mich
überraschen. Und es ist nicht nur so, dass dieser "Puppenharn" von diesem
Wunsch erzählt; das Auspacken dieser Skulptur aus dem Geschenkpapier aus Nebel schmeckt
bereits nach diesem Duft von dort. Es ist mir eine grosse Freude - und für den Leser
vielleicht auch.
|
|