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An einem sonnigen Herbsttag, dem 2. Oktober 1995, Vortag der
Fünfjahresfeier der deutschen Einheit, spazierte ich mit Alisha im Tragebeutel vor meinem
Bauch über den Mauerstreifen. Auf dem Weg zum Mauermuseum hinunter erzählte ich meiner
friedlich schlafenden Tochter, dass dies meine Wiese sei. Da sei ich Wiesenschafter.
Früher hätte man vielleicht diese Berufsgattung als die der Hirten bezeichnet. Meine
Schafe und Kühe hätten Flügel und sähen aus wie Schmetterlinge. Ein Hirte mit
fliegenden Kühen also. Ich spazierte an den Brennesselbüschen vorbei, auf welchen die
Raupen meiner fliegenden Kühe gegrast hatten. Nun waren sie herbstlich verdünnt. Am
Flachdachbetonbau der Versöhnungsgemeinde prangte ein Plakat : "Bibeltage in
13355". Zunächst sah ich nur diesen seltsamen Titel. Was das bedeuten soll:
"Bibeltage in 13355". Fehlten da die Punkte eines Datums? 13.3.55? Oder war das
eine ganz neue utopistische Veranstaltung, eine Vorschau auf Bibeltage im Jahre 13355? Bei
nährerer Begutachtung der Vortragsreihe erfuhr ich, dass 13355 die Postleitzahl von
diesem Stadtteil in Wedding ist. Eine numerische Ortsbezeichnung also. Vor ziemlich genau
einem Jahr war ich das letzte mal hier gestrandet. Damals noch nicht Vater, noch nicht
Ehemann. Unterdessen waren ein paar Bücher zum 100. Gründungsjahr der Versöhnungskirche
erschienen. Der Gottesbau stand da einst auf dem Mauerstreifen, wurde dann aber gesprengt,
weil er der sicheren Bewachung des Schutzwalls gegen den Faschismus im Wege stand. Für
die Bücher über diese gesprengte Kirche wurde da geworben. Dann waren Informationen
über drei Projekte zur Gestaltung des Mauermuseums angeschlagen. Dazu hatte es offenbar
einen Projektwettbewerb unter Architekten und Interessierten gegeben. Die ersten beiden
Ideen sind mir gleich wieder entfallen. Von der dritten Idee war mir wenigstens noch der
Titel in Erinnerung geblieben: "Keine Gedenkstätte". Das sollte der Titel des
Mahnmals sein. Eine Furzidee, würden wir dem in gut Schweizerdeutsch sagen. Aber
immerhin. Alisha war nicht aufgewacht. Und mit dieser süssen Last vor dem Bauch, konnte
man sich nicht einmal aufregen. Es blieb bloss ein Staunen übrig. Durch die
unterirdischen Gänge des Nordbahnhofs gelangte ich zur Invalidenstrasse und von dort
weiter zur Post, um ein paar Briefe aufzugeben. Auf dem Rückweg nahm ich die Abkürzung
durch den Sophienfriedhof, denn da konnte ich dem Autoverkehr entkommen und unter dem
Blätterdach der herbstlich verfärbten, ehrwürdigen, Bäume wieder zum Mauerstriefen
gelangen. Als ich durch das geöffnete schmiedeiserne Tor eintrat stutzte ich. Wir wurden
empfangen von einer schwarzen Katze. Sie schaute neugierig auf die unerwarteten Besucher
und sass wie aus schwarzem Marmor gehauen mit glänzendem Fell stolz und selbstsicher vor
einer kleinen Statue, die von Efeu umrankt war. Ihr Platz war majestätisch erhöht auf
einer kleinen Bühne, die wie für sie gemacht schien. Dieses Podest war aus schwarz
gestrichenem Blech eine Abdeckung für eine darunterliegende Spendenkasse für die Pflege
des Friedhofs. Die Katze hockte also über dem Einwurfsschlitz dieser Kasse und drehte bei
meinem Vorbeigehen aufmerksam den Kopf nach uns um. Seltsame Wächterfigur, Seltsamer Ort
ihres Aufenthalts. Die Wege an den Grabreihen vorbei waren bedeckt mit Kastanien. Sie
waren teils aus den stacheligen, grünen Hüllen gesprungen und glänzten wie Augäpfel
vom Boden herauf. Alisha schlief noch immer. Während ich an den lockeren Reihen der
Grabsteine vorbeiging, wurden mir die Motive der Physiker und Geomanten klar. Diese
Grabsteine sind eigentlich gemeint, nicht die schwarzen Löcher, durch die man in andere
Welten und Zeiten reisen könnte. Das sind die Omphalos, die Orakel, die von den Kräften
des Himmels und der Erde und von Orten der Kraft erzählen. Und hier lebt doch die
Erinnerung an all diejenigen, die diese Erde bereits verlassen haben und auf andere viel
feinere Weise heute bei uns sind. Auf halber Höhe des Weges beim Ausgang zur Ackerstrasse
öffnete eben ein Totengräber das Tor, um mit seiner kleinen Zugmaschine und dem
Anhänger den Friedhof zu verlassen. Das kleine Gefährt ratterte redlich. Eine Schaufel
lag auf der leeren Ladefläche. Es war ein junger Mann mit zu einem Schwanz
zusammengebundenen, langen Haaren. Eine wohltuende Ruhe lag in diesem schlichten Friedhof.
Viele kleine, unscheinbare Steine markierten die Ruhestätten. Dazwischen standen hohe
Bäume und viel Gewächs um die Gräber. Am Ausgang zum Mauerstreifen, wo sich die Bäume
lichteten und die jüngsten Gräber lagen, bemerkte ich im Gegenlicht einen Mann, der sich
bei einem frischen Grab niedergelasen hatte und einen kleinen Strauss Rosen umständlich
aus dem durchsichtigen Cellophanpapier auspackte. Er gab seine Blumen zu den anderen
Sträussen, die das Grab mit ihren kräftigen Farben ganz bedeckten. Als der ältere Mann
mich sah, den Wanderer mit dem Baby vor dem Bauch, erhob er sich und schaute uns
sinnierend nach.
4
Seit einer Stunde war ich mit Alisha unterwegs. Es war ein
prächtiger, klarer Herbstvormittag. Der Himmel glich einem tiefen See, die Häuser hoben
sich im Sonnenlicht hell ab. Azita hatte mir gesagt: "Komm nicht vor 12 Uhr
wieder." Sie wollte noch etwas ausruhen von den Anstrengungen der Mutterschaft und
von ihrer Grippe, die auszuklingen schien, sie aber doch ziemlich hergenommen und
geschwächt hatte. Und dann wollte sie in Ruhe eine Dusche nehmen, bis wir wieder kämen.
Mein Spaziergang führte Alisha und mich zur Sparkasse, dann trank ich in der Bar
"Kapelle" bei der Zionskirche einen Tasse Milchkaffee und schlenderte im
Sonnenschein über den Grenzstreifen zur Strelitzerstrasse. Da also stand ich mit der
schlafenden Alisha im Beutel um 11. 45. So entschied ich, noch zur Ackerstrasse
weiterzugehen, durch das Gebiet, auf welchem ich meine Raupen des kleinen Fuchses gefunden
hatte, und von wo ich die Brennesseln als Futter für meine Haustiere geschnitten hatte.
Die Wege in diesem Gebiet nehmen einen seltsamen Verlauf. Von der Strelitzerstrasse führt
er zu nächst 100 Meter geradeaus. Da sprach ich zu Alisha : " Was würdest Du wohl
über Deinen Papi jetzt sagen, bei dem was er da empfindet, diesen Weg mit Dir zu gehen,
den ich hunderte Male gegangen bin, als Du noch in Azitas Bauch warst. Da ging ich
hinunter, immer wieder, um Brennesseln zu holen und täglich durchstöberte ich das ganze
Gebiet um Raupen der Schmetterlinge zu suchen. Du würdest sicher sagen : der Papi ist ein
Lappi. Du hättest recht. " Dann aber vor einem kleinen Abhang, zweigte ein Weg links
ab, führte in einer Schleife in einen zweiten Weg, der dann fast parallell zum ersten in
der Ackerstrasse mündete. Vor der Mündung waren sie nochmals miteinander schräg
verbunden.
Doch nun, als ich da hinuntersah entdeckte
ich plötzlich zwischen dem Weg und der Baumreihe an der Bernauerstrasse ein seltsames
Gebilde. Auf meiner Wiese stand da ein etwa drei Meter hohes Gehege aus massivem
Maschendraht, der an armdicken Holzpfählen befestigt war. In dem etwa drei auf zwei Meter
grossen abgesteckten Gebiet standen zwei seltsame in orange Planen eingepackte Gebilde.
Von weitem musste man vermuten, es seien technische Apparate darunter geschützt, Pumpen
oder Transformatoren. Am Gehege waren an allen vier Seiten Tafeln befestigt:
"Betreten der Baustelle verboten, Eltern haften für ihre Kinder." Da war ich
also angesprochen in meiner Verantwortung für Alisha vor meinem Bauch. Doch die Gebilde
sahen so in nichts nach etwas Lebensgefährlichem aus. Das eine glich in den Konturen der
orangen Plane entfernt einem Pferd, einem mannshohen, trojanaischen oder Schauckelpferd
vielleicht. Das zweite Gebilde besass dieselbe Höhe von vielleicht eineinhalb Metern, war
aber kleiner als das erste. Unter der Plane lugten mächtige Holzbalken hervor, auf denen
offenbar die eingepackten Objekte ruhten. Sie mussten sehr schwer sein, dass man sie auf
Balken von der Grösse von Bahnschwellen stellen musste. Seltsamerweise aber waren diese
Balken an den Enden geschnitzt. Grob zwar nur waren da Verzierungen in Form von
geschwungenen Blättern zu sehen, und die Längsseiten der Balken waren ebenfalls in
schlichten runden Rillen an den Ecken gestaltet und gehobelt. An einem Ende eines solchen
Balkens ragte eine ellenlanger dicke, verkrümmte Eisenstange heraus. Sie trug am Ende ein
Gewinde mit einer schweren Mutter. Da musste der Balken also befestigt gewesen sein. Die
Enden der anderen Balken waren teilweise verrottet. Die Balken machten einen wertvollen
Eindruck. Sicher aber waren sie zu wertvoll, um nur als Gestell unter einer Pumpe
verwendet zu werden. So entstand nach und nach die Idee, dass da eventuell zwei Kunstwerke
aus Metall darunter liegen könnten. Zwei Plastiken, die vielleicht auf diese Hölzer
montiert waren. Durch die Verpackung in den orangen Planen mit den starken Stricken, die
gekreuzt, längs und quer über die Objekte festgezurrt waren, musste ich an den
verhüllten Reichstag denken, aber auch irgendwie an Tinguely. Mit roter Schrift war von
Hand auf eine weisse Tafeln geschrieben worden. "Achtung, Lebensgefahr!" Das
konnte also auch eine Rauminstallation sein, eins dieser modernen Objekte mit denen man
die Menschen beschäftigen wollte, ohne sich selbst damit beschäftigt zu haben. Die
Warnung klang keineswegs glaubhaft. Auch weil die Tafel von Hand geschrieben war und so
inoffiziell aussah und die Schrift im Vergleich zu ihrem Inhalt so dünn und ungefährlich
wirkte. Dies konnte nur jemand geschrieben haben, der nicht wusste was er schrieb, oder
aber wusste, dass das, was er schrieb, eigentlich nicht stimmte. Das Gehege stand präzis
in dem Gebiet, wo ich das Photo zu meinem Bild "Mittags in den Kräutern"
gemacht hatte und auch wenige Meter neben der Stelle, wo ich vom kräftigsten Stock meine
Brennesseln für die Raupenfütterung geerntet hatte. Als ich um das Gehege herumging,
bemerkte ich die Lösung des Rätsels auf einer weiteren Tafel : " Glocken der
Versöhnungskirche, Infos : Bernauerstrasse 111. " Diese Erklärung erschütterte
mich. Nun konnte ich auch die Glocken unter den Planen erahnen. Es mussten drei Stück
sein. Unter der Pferdeplane standen zwei nebeneinander, gemeinsam eingepackt. Die dritte
war einzeln verhüllt. Und die Balken waren natürlich die Überreste des Glockenstuhls,
an denen sie einst aufgehängt waren. Was aber suchten diese verpackten, eingezäunten,
Glocken da und weshalb stand da etwas von "Baustelle" und von Eltern die für
ihre Kinder haften und Lebensgefahr? Ich begab mich sogleich zur Bernauer 111, wo sich das
Gemeindehaus der evangelischen Versöhnungskirche befand. Der Haupteingang war jedoch
verschlossen. Ich bemerkte dort einen Anschlag dass heute der Kurs in Hatha-Yoga ausfallen
müsse, wegen Krankheit. Die Öffnungszeiten besagten aber , dass man von 9 bis sechzehn
Uhr im Büro, das sich gleich daneben befand, eintreten könnte. Als ich dort durch die
ganz aus Glas bestehende Front, in der sich die Türe zum Büro befand hineinschaute, war
es darin so dunkel, dass ich nur ein Architekturmodell des Mauermuseums erkennen konnte.
Und dahinter, hinter einer weiteren Glaswand einen Mann, der am Telefon war, mich aber
nicht sah. So kehrte ich um und entschied, später vielleicht nochmals zu kommen. Ich trat
unter dem schweren Betonvordach des Eingangs auf den Gehsteig hinaus ins warme
Sonnenlicht, das zwischen den herbstbunten Bäumen hindurch schien. Da blieb ich kurz
stehen. Ich sah, wie ein Mann das Büro des Gemeindehauses durch die Türe verliess vor
der ich zuvor gestanden hatte. Meine Blick richtete ich nun zum Grenzstreifen hinüber,
ich blieb aber auf dem Gehsteig stehen, betrachtete die Menschen, die auf den Autobus
warteten und zündete mir eine Zigarette an. Es war eine West. Sven hatte mir gestern das
Paket ins Atelier gebracht, als wir seine Korrekturen zu meinem Text über die
Wiesenschaft besprochen haben. Hier nun eine West zu rauchen machte tatsächlich Sinn. Das
vergass ich aber gleich wieder. Plötzlich spürte ich, wie etwas auf meinen Kopf fiel und
dann neben Alisha im Tragebeutel liegen blieb. Es war der Propeller des Ahornbaumes, eine
dieser Nasen des Ahorns. Ich musste lachen und dachte dabei : "Du bist ein Schlingel,
ehrlich." Nun kehrte ich wieder um und trat nochmals auf die Glasstüre der Büros
des evangelischen Versöhnungsgemeinde zu. Nun konnte ich in der Dunkelheit erkennen, dass
da ein Mann war, den ich zuvor nicht gesehen hatte. Er sass mit dem Rücken zur Türe vor
einem Computer und telefonierte. Ich betrat den Raum. Der ältere Herr, der gerade
irgendwelche Daten des Anrufers in eine Windowsmaske eintippte, schaute kurz zu mir auf.
Ich grüsste und sagte, ich sei wegen dem Buch über die Versöhnungskirche gekommen. Ob
man es hier kaufen könnte. Er fragte ob ich warten könnte. Ich bejahte. Während er
weiter mit seiner Maus in der Maske auf dem Bildschirm herumfuhr und Telefonnummern
eintippte, schaute ich mich um. Es stand da noch ein zweites Pult, auch mit Computer und
einer ganzen Menge von Zetteln und Akten und Prospekten übersäät und daneben noch ein
Pult mit einem Computer im Towergehäuse. Der Raum war halbiert mit einem Regal in welchem
reihenweise Ordner standen, auf einem Tisch lag ein Stapel Zeitschriften mit dem Titel
"Der Rabe Ralf, Umweltabhängiges Magazin," dazu Flugbläter über
Bibelgespräche, Infos über Kurse und dergleichen. In nichts unterschied sich dieses
Büro von dem eines Immbobilienmaklers, eines Greenpeaceshops, Versandhausbestellcenters,
oder einer Behörde ausser in der etwa grösseren Unordentlkichkeit und in der Dunkelheit,
die da herrschte. Ich konnte beim besten Willen keine Anhaltspunkte finden dafür, dass
dies das Büro einer religiösen Gemeinschaft sein sollte. Ja, mit sehr viel Phantasie
konnte man im Towergehäuse des Computers vielleicht noch das Modell eines modernen
Kirchturms erblicken. Während ich gelangweilt den "Raben Ralf" durchblätterte
trat aus dem nur mit Glas begegrenzten Gang durch eine Glastüre ein junger Mann ein und
setzte sich ans zweite Pult. Er schaute mich fragend an, ich trat zu ihm und unterbreitete
mein Begehren, ob es hier das Buch über die Versöhnungskirche zu kaufen gäbe, für
welches man am verschlossenen Eingang des Gemeindehauses Werbung mache. Er schaute etwas
konsterniert in die Runde und sein Bedauern war schon zu spüren. Das Buch lag auch
nirgend auf. Und es schien , als ob er danach suchen würde, obwohl er wusste, dass hier
im Büro eigentlich keins sein konnte. Dann tauschte er mit dem älteren Mann, der sein
Tlefongspräch unterdessen beendet hatt ein paar kurze Worte, in denen es um einen Raum
oder einen Kasten oder einen Tresor ging, der vielleicht nun geschlossen sei, und in
welchem wahrschenlich die Bücher oder aber die Kasse lagerte. Es schien also
Komplikationen zu geben. Deshalb richtete ich das Gespräch nun auf den Kern meines
Besuches und erklärte dem jungen Mann, dass ich die verpackten Glocken auf dem
Grenzstreifen gesehen hätte. "Wie haben sie bemerkt, dass das Glocken sind",
verwunderte er sich. "Es steht angeschrieben" entschuldigte ich mich. "Ach
ja." erinnerte er sich. "Wollen sie sich setzen" fragte er , indem er auf
den Klappstuhl aus Chromrohren und gelochtem Blech vor seinem Glastisch wies. Es war aber
nicht einfach sich da hinzusetzen, weil ich ja Alisha im Tragebeutel vor meinem Bauch
trug. "Warum stehen diese Glocken da", konkretisierte ich meine Frage.
"Also, begann er, "1985 wurde die Versöhnungskirche gesprengt..."
"Das weiss ich bereits" versuchte ich die Einleitung abzukürzen. So erfuhr ich
anschliessend, dass die Glocken an genau dem Ort stünden, wo einst der Kirchturm der
Versöhnungskirche gestanden hätte. Da wollte man nun ein Holzgerüst bauen, um die
Glocken einzuhängen, damit man sie wieder läuten konnte. Der freundliche Mann erklärte
dazu, dass ja der Streifen nun schon seit Jahren nutzlos brachliege und dass man da etwas
machen müsste. Die Idee sei also, dieses Holzgerüst mit den Glocken aufzustellen und die
Fundamente der früheren Kirche abzustecken, vielleicht mit Steinen auszulegen und den
früheren Boden der Kirche mit grobem Kies aufzufüllen, damit man sehen könnte, wo genau
die Kirche gestanden habe. Mir fiel gleich auf, dass man selbst in Verteilstellen von
umweltbewussten Magazinen unheimlich Schwierigkeiten zu haben schien mit nutzlosem Land,
und dass dieser Widerspruch, ja, diese Faulheit des Denkens, mich eigentlich an der ganzen
Umweltszene anekelte. Der junge Mann war aber sympathisch und hilfsbereit. Und mein
Vorwurf hätte ihn bestimmt ganz unschuldig getroffen, da er ja dafür nicht
verantwortlich wäre. Ich bin ja meist auch höflich, besonders bei Sonnenschein, und
wollte ihn nicht belästigen mit einer Diskussion über den Widerspruch des Umweltschutzes
und der Denk- und Mahnmalpflege. Deshalb erklärte ich ihm nur kurz, dass ich Künstler
sei und mich für den Grenzstreifen sehr interessieren würde. In kurzen Zügen erzählte
ich ihm von den Kräutern und Unkräutern die da wüchsen und dass es genau dieses
vermeintlich Unnütze sei, das diesem Grenzstreifen seine besondere Bedeutung gäbe. Diese
Unberührtheit sei eine Chance zur Betrachtung, wie eine Wunde zuwächst. Als ich von den
Schmetterlingen erzählte, den Schwalbenschwänzen und so, bemerkte ich in den Zügen
meines Gegenübers eine Mischung aus Mitleid und ungläubigem Interesse. Um ihm nicht
Anlass zu geben, mich als geistig Verwirrten zu betrachten, lenkte ich das Interesse auf
den Grundriss der Kirche. Dieser Stemmbogen ins Technische lockerte die Athmosphäre
augenblicklich. Er holte einen Plan, den er offenbar griffbereit abgelegt hatte hervor und
erläuterte ihn mir. Irgendwie schien er auch Angst zu haben, dass da jemand kommt, der
diese Idee des Glockengerüstes behindern könnte. Es war mehr diese Unsicherheit, dass er
meine Absichten nicht erkennen konnte, oder dass er den angegebenen Motiven nicht folgen
konnte, die ihn so dienstfertig machten. Der Plan der Versöhnungskirche aber war für
mich höchst interessant. Der Grundriss der Kirche war nicht länglich, wie ich immer
angenommen hatte, sondern fast quadratisch. Der Turm stand zur Bernauerstrasse hin und das
Kirchenschiff erstreckte sich zum Sophienfriedhof hin. Es stand also wie ein Riegel oder
eine Staumauer quer über den Grenzstreifen. Ich erhielt die Auskunft, dass die Glocken,
die wertvollen Gegenstände und der Altar vor der Sprengung entfernt worden seien und vom
Ostteil der Versöhnungsgemeinde eingelagert worden seien. Da man die Glocken nicht für
einen anderen Kirchturm verwenden konnte, der dazu zu wenig stabil gebaut wurde, sei nun
das Projekt zur Erstellung dieser Turmmarkierung gekommen. Weil ich angegeben hatte
Künstler zu sein, erhob sich dann der junge Mann, um mir ein Flugblatt über eine
demnächst geplante Rauminstallation auf dem Streifen zu geben. Es schien sich dieser
Streifen also für Veranstaltungen jeder Art geradezu anzubieten. Die scheinbare Leere
musste unheimlich provozierend und beschämend wirken. Da man den Blick nicht auf die
Dinge lenken wollte oder konnte, die aus dieser Wunde hervorbrachen, musste man sie also
mit solchen Pflastern immer wieder zudecken. Letztes Jahr hatte man noch ein Zirkuszelt in
den Abschnitt zwischen Brunnen und Chornierstrasse gestellt, da soll nun demnächst ein
Altersheim gebaut werden. Das Buch war tatsächlich in einem Kasten oder so eingeschlossen
und der Mann entschuldigte sich, dass er auch nicht wüsste, was das Buch koste. Als ich
ihn fragte, ob es denn in Buchhandlungen erhältlich sei, sagte er, dass diese es
wahrscheinlich bei ihnen hier bestellen müssten, aber dass es dann wahrscheinlich teurer
sei. Ob ich morgen kommen solle, erkundigte ich mich. "Besser nächste Woche, dann
sind alle wieder im Büro". Damit verabschiedete ich mich von dem zuvorkommenden Mann
und spazierte mit Alisha nochmals zum Ort, wo die verhüllten Glocken in diesem
Hochsicherheitsgehege standen. Da nun fiel mir auf, dass der Brenesselbusch, von dem ich
die Futterpflanzen für meine Raupen gepflückt hatte, genau im Altarraum der früheren
Kirche stand und dass das Photo, das ich als Studie zum Bild "Mittags in den
Kräutern" gemacht hatte, in unmittelbarere Nähe des Kirchturms entstanden war. Ich
war also, ohne es zu wissen fast täglich zur Kirche gegangen, um da die Brennesseln vom
Altar zu holen.
Zuhause angekommen traf ich Azita schlafend
an. Sie erwachte, bemerkte, dass sie zu lange geschlafen hatte, um jetzt noch Duschen zu
können, da Alisha um 12 Uhr gefüttert werden musste. Als ich Alisha wickelte und sie
nackt auf dem Wickeltisch lag, erzählte mir Azita davon, dass sie vorhin einen lustigen
Traum gehabt hätte. Wir seien im Auto unterwegs gewesen in einem Wald. Das Auto sei aber
auch ein Schiff gewesen. Und der Wald auch ein See mit glasklarem Wasser. Das Autoschiff
sei eine Art Glasbodenboot gewesen, man hätte da im Wasser eine Menge von Fabelwesen
gesehen und auch die Wurzeln der Bäume. Der Wald habe wunderschön ausgesehen, So wie
jetzt, die Pracht der Bäume im Sonnenglanz. Und die Sicht ins Wasser sei phantastisch
gewesen. Plötzlich sei unter dem Bootauto eine grosse Schlange durchgeschwommen. Ein
schönes, mächtiges Tier eine Phyton. Azita sagte, sie hätte Angst gehabt vor der
Schlange, obwohl sie wirklich ganz wunderbar ausgesehen habe. Ich hätte sie beruhigt und
gesagt : "Die macht uns doch nichts" . So wie ich oft sagen würde, dass sie
keine Angst haben solle. Es waren da noch weitere Fabelwesen, die sie nicht näher
beschreiben konnte. Dann aber sah sie auf dem Augendeckel von Alisha einen kleinen Wurm.
Er sah aus wie die Made der Mehlmotte, die Azita gestern an der Schachtel ihrer Iranischen
Kekse entdeckt hatte, und vor der sie sich geekelt hatte. Der kleine Wurm war eine Art
Blutegel, der am rechten Augendeckel von Alisha saugte. Als Azita mir dies ängstlich
bedeutet, hätte ich erklärt : "Ach ja, das ist der Egel, der gestern an meinem
Augendeckel gesaugt hat", dann hätte ich ihn von Alishas Auge weggenomen. Azita
hätte protestiert und gesagt :"Den kannst Du doch so nicht wegnehmen, du musst ihn
rausdrehen, wie bei den Zecken, sonst bleibt der Kopf drin. " Ich aber hätte sie
wieder beschwichtigt und gesagt :"Nein, nein, das ist schon gut. Das ist ein Egel und
keine Zecke. Die kleine Wunde heilt bald zu." In der nächsten Szene hätte sie ihre
Schamhaare abrasiert gehabt. Und wir seien miteinander ins Bett gegangen. Doch ich hätte
ihr dauernd gesagt, während wir miteinander schliefen : "Nein, das musst Du nicht so
machen, so musst Du das machen." So hätte ich sie ständig belehrt, bis sie die Lust
verloren hätte. Dann sei ich mit Alisha im Zimmer erschienen und sie sei aus dem Traum
erwacht.
Der Traum musste genau in der Zeit stattgefunden haben, als
Alisha und ich den Glocken begegnet sind und das Büro der Versöhnungskirchgemeinde West
besucht hatten.
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