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Puppenharn Vorwrt Entwurf 1 
 

Berlin, 19. August

 

Puppenharn

 

„Alle Wiesen und Matten, alle Berge und Hügel sind Apotheken“ Paracelsus (1493-1541)

Dass Kräuter als Nutzpflanzen wegen eines bestimmten Inhaltsstoffes für den Menschen als Heilmittel eine Bedeutung haben sollen, ist ein technokratisch verunglimpftes Märchen. Eine Wirkung braucht die Legitimation durch eine Erkenntnis nicht. Ganz absurd ist dies an der Verzweiflung der Schulmedizin zu erkennen, irgend ein materielles Geheimnis, einen Schatz, als einen reinen Stoff aus einer Pflanze extrahieren zu wollen, und diesem Stoff dann bestimmte Wirkungen zuzuschreiben. Der Stoff , das Materielle ist nur ein Kleid. Ihre Wirkung haben die Pflanzen aufgund ihres Wesens, des Ortes, an welchem sie wachsen und aufgrund der Zeit, zu welcher sie gesammelt wurden. Eine Kultivierung von Kräutern macht diese beiden Säulen der Heilkraft zunichte. Das Sammeln von Kräutern hat mit dem Aufsuchen der Plätze mit der Zeit und mit der Haltung gegenüber den Kräutern zu tun. Jedes Kraut, welches ohne menschliche Absicht irgendwo wächst, hat sich da behauptet. Es lebt da, hat sich eine Nische gefunden für sein Wachstum. Für den Menschen ist die Bedeutung des Ortes wohl deshalb in Vergessenheit geraten, weil er selbst glaubt mobil zu sein. Sein „Ort“ ist zwar in seinem Inneren und in seinem Körper ebenso fest und unverrrückbar. Der Mensch kann sich aber diesem inneren Ort entfernen oder annähern. Was er mit seiner körperlichen Hülle im Äusseren tut, ist Hinweis auf sein Inneres. Die Zeit, als die Minute des Sammelns ist in vielen Kräuterbüchern technisch begründet. In den frühen Morgenstunden sollen gewisse Stoffe mehr vorhanden sein als andere. Zuweilen wird auch noch nach alten Mondkalendern gesammelt und geerntet. In Ansätzen ist also ein Empfinden für die Wichtigkeit der Sammelzeit vorhanden. Diese Empfehlungen weisen auch darauf hin, dass sich das Wesen einer Pflanze, ihre Erscheinung und also auch ihre Wirkung auf den Menschen in der Zeit ändert. In der Tageszeit und in der Zeitspanne ihrer Entwicklung. In der Signaturenlehre sind die Fragen nach dem Was, Wo und Wann weitgehend enthalten. Zum Wesen einer Pflanze gehört ihr Standort und ihr Wachstumsrhythmus.

 

1.) Der leidende Mensch wird an die Orte des Wachstums seiner Kräuter geführt. Es sind dann die Orte seines eigenen Wachstums. Die Kräuter sind ein Geschenk des Himmels, damit er ein „Gegenüber“ hat, welches der Mensch benötigt, um seinen Schmerz zu teilen. Diese Begegnungen sind überall möglich. Das Verabreichen einer Arznei ist der Nachvollzug dieses Weges zu einem Ort und einer Zeit und die Begegnung mit einem Wesen, das ihm seinen eigenen Ort weist. Diese Orte nennt man deshalb heilig.

 

Es ist das, was Du Thomas als „Trost“ bezeichnest. Die Hinführung an den Ort Deines Lebens. Durch den Griff zu Deinem homöopathischen Mittel, begibst Du Dich auf diesen Weg. Und er ist trostreich wie ein Waldspaziergang oder das Schlendern über eine Magerwiese.

 

2.) Zu einem Mittel gehört eine astrologische Konstellation, das heisst ein Ort-Zeit-Bezug. Dieser gehört ja eigentlich immer dazu, denn die Pflanze stammt von einem Ort und wurde zu einer bestimmten Zeit geerntet. Der Zeitpunkt des Pflückens ist die Berührung durch den Menschen. Sein Hintreten und Ernten und seine Erwartung. An einem Ort und zu einer Zeit. Das später aufbewahrte Mittel ist Erinnerung an diesen Ort und diese Zeit und diese Erwartung. (Der Wein ist Symbol dafür, aber auch die Bachblüten).

 

3.) Das Medikament hilft dem Menschen, zu sich Selbst wieder in ein Verhältnis zu treten. (Kierkegaard), Dies geschieht in der biblischen Auslegung des „Heilens“ in drei Schritten, die den „Thomasschen Schichtungen“ in Natürlicher Mensch, Philosophischer Mensch, Religiöser Mensch entsprechen. Friedrich Weinreb hat hier den Link zur Homöopathie geschlagen, indem er diesen Weg als ein „Verdünnen“ im Sinne von „leicht machen“, „erleichtern“ erklärte. Die Beschwerden, das schwere Lasten der Krankheit ruft nach der Erleichterung, dem Auflösen, der Erlösung.

 

4.) Ein Mittel muss also auch in einem astrologischen Verhältnis zum Menschen stehen. Das tut es eigentlich immer irgendwie. Ein Mittel muss ja eingenommen werden und es wird zu einer bestimmten Zeit eingenommen. Hier decken sich dann die Ort-Zeit-Bezüge zwischen Mittel und Mensch. Die Vorzeichen dieses Bezuges haben sich aber geändert. Statt dass der Mensch zum Ort pilgert, wo das Kraut wächst, pilgert der Ort (im Mittel) nun zu ihm. „Medikament“ meint also das In Bezug treten zu einem verlassenen Ort, zu einer bestimmten Zeit. Das Kraut ist für diesen Ort und diese Zeit und die Erwartung der Reise ein Orakel. Eine Reise zu einem Pilgerort wird meist zu ganz bestimmten Zeiten unternommen. Ja, Wirkung ist an einem Ort überhaupt erst zu einer bestimmten Zeit möglich.

 

Das Erkennen solcher Orte ist eine menschliche Grunderfahrung. Im Umfeld von Aufklärung und wissenschaftlicher Beweiswut allerdings eine oft ziemlich verkümmerte Gabe. Die Modernität des Mittelalters zeigt aber als äussere Faszination auf diesen Verlust. Die Semiotik, die als wissenschaftliche Richtung von Umberto Eco mitbegründet wurde, ist der Versuch einer Transponierung der Idee der mittelalterlichen Signaturenlehre in ein wissenschaftliches Gebäude des 20. Jahrhunderts. Der vom Wesen des mittelalterlichen Menschen faszinierte Eco will aus dem mittelalterlichen, absoluten Vertrauen in die Empfindung der Welt ein wissenschaftliches System von bestimmbaren Botschaften nichtsprachlicher Zeichen machen. Aus den Erscheinungen der Welt sollen Botschaften extrahiert werden, die nachvollziehbar und überprüfbar sind. Diese „Übersetzung“ scheitert ebenso wie diejenige der Medizin. Sie zerstört schon im Ansatz das, was sie zu erreichen vorgibt. Ecos Romane sind Ausdruck dieser Sehnsucht nach dem verlorenen Vertrauen in die eigenen Empfindungen. Eine Art Middle-Age-Blues. Die Sehnsucht nach Verlorenem verschliesst immer die Augen für die Gegenwart des Verlorenen im Jetzt. Aber sie ahnt darunter, dass nichts verloren ist!

 

Ein ähnliches Missverhältnis besteht zwischen der Empfindung, einen Menschen gleich beim Anblick zu erkennen, und dem Versuch, daraus eine Systematik zu machen. (Physiognomie) und in eigentlich fast allen modernen Esoterik-Ritualen. Statt in ein Verhältnis zu sich zu treten wird das Heil ins Verhältnis zu einem Arzt, Führer, Sektenbruder projziert. Dieses Missverhältnis wird von Ärzten sicher oft schmerzlich erfahren. Ein Arzt kann als Arzt nicht helfen, nur als Mensch. Der Behandelnde muss also aus der Hülle, die mit Erwartungen behaftet ist, schlüpfen. Die Rituale dazu sind in Beobachtungen über Medizinmäner dokumentiert. Indem sich der Mensch als „Funktionär“ entzieht, enthebt er sich der Anmassung, heilen zu können, und tritt als Begleiter auf, der einem den Weg zum Heiligtum zeigt. In der Bibel ist es nicht der Priester, der heilt. Er ist nur Weggefährte des Kranken, sein Gegenüber, der ihm den Pfad zur Begegnung mit seinem Schicksal weist. Das ganze Besitztum des Priesters ist sein Vertrauen. Am besten ist er nicht Priester als Rolle. Sonst muss auch er zuerst aus der Robe der Erwartungen schlüpfen. Nur so ist der Versuchung zu entkommen, mit Wundern zu blenden. Ein wahrer Priester ist kein Täuscher, kein Zauberer. Der beste Begleiter ist der Enttäuscher, der, der die Falschheiten aufdeckt und die Freude über den neu gewonnen Blick auf das Wahre teilt. Im Glauben ist keine Erwartung. Die Erwartung, die ans Irdische geknüpft und ins Irdische gerichtet ist muss also verdünnt werden, verdünnt werden, verdünnt werden, bis das Wesentliche freigelegt ist, das bedeckte, versteckte und beinahe verstickte Innen. Die Homöopathie zeigt diesen Weg klar auf, wie durch die Potenzierung die Erwartung an die Wirkung des Weltlichen, Stofflichen und Materiellen verdünnt und mit Schlägen zerschüttelt wird. Dieser Weg soll zur Heilung gegangen werden.

 

Immer wieder wird der Homöopathie vorgeworfen, sie entziehe sich einer denkerischen Annäherung. Ihr Prinzip liege im „Glauben“ daran und Vertrauen darauf, dass sie schon wirke. Aber selbst dann, müsste doch das Phänomen erklärbar sein. Diese Anklage versucht aber lediglich, durch Beweise eine Erkenntnis ohne Glauben zu erlangen. Sie will den Faktor des Unerklärbaren tilgen oder Ignorieren können. Es ist ja nicht so, dass es keine Erklärungsversuche gibt für die Homöopathie. Es ist aber ein Problem der Logik darin zu finden. Denn mit den Masstäben des logisch Nachvollziehbaren, wissenschaftlichen ist der Empfindung dieser Wirkungen nicht Geltung zu verschaffen.

 

Wir unterliegen hier dem gleichen Irrtum wie bei der Betrachtung des Darwinismus. Das abstrakte Prinzip der „zufälligen“ Mutation, die zur Diversifikation, schliesslich zu neuen Arten führe, ist zwar verständlich, entspricht aber nicht den Aussagen von Darwin. Die Welt wollte Darwin einfach so verstanden wissen. Darwin hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit zur Anpassung im Leben selbst liegt und nicht nur im Sprung zur nächsten Generation. Das heisst also, dass diese Veränderungen, dieses Ablegen und Überwinden ererbter Konstanten eine Errungenschaft im Leben ist, das was als Teschuwa als Umkehr auf dem falschen Weg bezeichnet wird. Diese Übergänge und Abkehren vom Bestehenden sind aber mit Ängsten verbunden. Sie sind einer Pubertät zu vergleichen. Das bisherige muss in Frage gestellt werden. Selbst das Unverständnis der eigenen Eltern und die Provokation des eigenen Nestes muss dazu ertragen werden. Reifung ist also immer ein Prozess der Taufe in der neuen Zeit. Das Untertauchen im Heute, das uns vom gestern trennt. Das, was daran zu verstehen ist, wurde aus seiner Lehre extrahiert, sozusagen als Wirkstoff des Darwinschen Geistes. Und mit diesem Missverständnis wurde er berühmt und werden die Kinder in der Schule geimpft.

 

Entscheidend und aussagekräftig für eine Zeit ist das, was sie in der Verkürzung und Interpretation ausschliesst, das was sie nach der Extraktion der Nährstoff ausscheidet, das Unverdauliche: Die aktive, kreative und zielgerichtete Veränderung des Lebens selbst. Insofern sind die „neuen“ Erkenntnisse der Chaostheorie (Hyperzyklen) keineswegs neu. Ins Bewusstsein des Zeitgeistes vermag aber nur einzudringen, was diesem entspricht. Das, was ihn wiederlegt wird den späteren Generationen generös als „Neuigkeit“ und „Entdeckung“ überlassen, auch wenn dies alles alte Hüte sind. Die Macht des Zeitgeistes besteht also vorrangig in der Verdrängung dessen, was ihn selbst als blosse Verdrängung entlarvt. Diese Macht gewährt oder verweigert Anerkennung. Sie arbeitet mit den Mechanismen der Zugehörigkeit, über welche das Lebendige, das sich verändernde, das umkehrende totgeschwiegen, das Tote und Abgestorbene hingegen als Lebenskern verherrlicht wird. Deshalb leben heute die Zombies wieder und die Saurier und die Vampire. So gesehen ist die Beobachtung der Tendenzen des Zeitgenössischen immer ein Blick in den Komposthaufen unserer Zeit. Dort lagern all die abgeschnittenen, kräftigen, über Ränder und Grenzen hinauswachsenden Äste und Unkräuter, dort stapeln sich die vom Rasenmäher der Gleichmacherei enthaupteten wüchsigen Grashalme. Die Homöopathie befasste sich im Umfeld der amerikanischen und französischen Revolution mit dem Verlust des Gestalthaften. Aus dieser Abfallhalde im Garten des Gestaltlosen wuchs in gärender Wärme die Heilung für die Zeit. Es geht eben nichts verloren, kein abgesägter Ast, keine geschnittenen Heckentriebe, kein Gras und kein Unkraut verschwindet. Es ist alles immer da. Manchmal vorübergehend auf einem Komposthaufen, woraus dann die Bedrohung für den zweckmässigen Garten solange wächst, bis er sich in seinen Absichten überlebt hat und dem nicht zu bändigenden Leben des Komposthaufens ergeben hat.

 

Was aber steckt wirklich hinter der Absicht, ein Heilmittel stofflich greifbar und im Labor reproduzierbar zu machen? Und was steckt hinter dem Bemühen, aus dem Empfinden der Menschen, einen Wirkstoff zu extrahieren? Die biblische Geschichte vom „Goldenen Kalb“ mag dies illustrieren. Gott, das Nicht Erklärbare, das nicht zu Verstehende, das aber dennoch oder vielmehr trotzdem wirksam ist, bedeutet eine Verunsicherung und Ohnmacht. Wir könnten auch sagen, dass Wahrheit immer Aufhebung von Macht, Moral, Gesetz, Zweck und Absicht bedeutet. Sie durchbricht sämtlicher Hierarchien und Prioritäten, stellt sie letztlich auf den Kopf und wird dann von den Berechnenden, Planenden und Gesetzeskonformen als Verhöhnung aufgefasst. Letzlich ist sie immer also auch Bedrohung für die Zivilisation, wenn diese sich selbstgenügsam als etwas Absolutes versteht, als der Weisheit letzter Schluss. Die Wahrheit verlangt Demut des Geistes. Wenn sie als Herausforderung zum Kampfe gesehen wird, und man sich mit ihr messen will, zieht sich der Mensch die Rüstungen des Don Quichotte an, dann sehen die Schlachten so lächerlich aus, wie die unterirdischen Mühlen der Elementarteilchen-Versuchslabors in denen in immer hysterischeren Angriffswellen und mit immer unverhältnismässigerem Aufwand, dem bekannten Teilchen immer noch Kleinere abgerungen werden sollen, um im Siegestaumel zu meinen, man sei damit der Wahrheit näher gekommen. Nein, die Wahrheit ist nicht auf dem Rückzug vor der menschlcihen Erkenntniswut, sie gibt im Vertrauen auf das neue Zeichen immer wieder etwas preis, aber daraus hat sie sich dann schon längst wieder zurückgezogen.Stephen Hawkings Phantasmen von der Umfassenden Welt Theorie und das Projekt der kompletten Genalayse des Menschen, weisen beiden auf dieses Ziel hin : Der Welt die Wahrheit abzuringen. Es gibt aber in der Forschung nichts neues zu entdecken, was nicht schon längst bekannt wäre. Es werden immer nur andere Modelle für dasselbe gesucht: Für die Eroberung der heiligen Stadt, deren In Besitznahme, Besetzung, richtig handgreiflich, messbar, und beweisbar, Quadratmeter um Quadratmeter. Und hinter diesem Wunsch steckt doch das Gefühl, dass diese heilige Stadt in fremden Händen sei, entehrt durch Heiden, die zwar auch behaupten, es sei ihre heilige Stadt, die sie auch schon erobert, geplündert und gebrandschatzt hatten. Es ist schon richtig : Die Wahrheit ist unteilbar. Es sind immer genügend Motive da, um den inneren Kampf um unsere eigene Wahrheit an die Welt zu verkaufen, ihre Einheit selbst zu zerstören, das Kind in eine Armee zu schicken, um für das Vaterland zu kämpfen. Oder wie die Stimmen der Schweigenden Mehrheit in einer Wahlurne, die erst zur Masse von formiert, einen Apparat legitimieren, die Ängste als Wille in den Krieg zu führen. Vielleicht sogar um des Friedens Willen in den Krieg gegen den Krieg. Tun und Schaffen ist das Kreative, das Verwandelnde in der Puppenhülle. Schöpferisch ist aber das Verlassen des Tuns.

 

 

 

 
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