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17.
August 1995: * Die
Entdeckung der beiden Admiralsraupen konnte ich nicht meiner tätigen
Suche zuschreiben. Es war doch nur Zufall. In ihm mischt sich die Verhöhung
des absichtvollen Tuns mit der Gnade des Geschenks. Hätte ich jemandem zu
erklären versucht, dass ich in meinem Atelier nach den Raupen des
Admirals suche, wäre wahrscheinlich die Einlieferung in eine
Psychiatrische Anstalt erwogen worden. Man hätte mir in der Angst um
meine Zurechnungsfähigkeit zu erklären versucht, dass doch der Admiral
da draussen lebe, auf der Wiese. Nun aber konnte ich entgegnen: „Ja ,
vielleicht. Aber ich habe doch schon zwei Admirale in meinem Atelier
gefunden!“ Kaum jemand lässt sich auf solche Diskussionen ein, obwohl
gerade in ihnen ein grosser Reichtum steckt. Und selbst wenn ich keine
Admiralsraupen gefunden hätte in meinem Atelier, können da zwischen
meinen Farbtöpfen und Werkzeugkisten und Papieren und Dokumenten für
mich Admiralsraupen anwesend sein. Ja, in Wirklichkeit sind da auch alle
anwesend, die ich noch nicht gefunden habe, das Grosse Nachtpfauenauge,
der Trauerfalter, der Mondfleck, Weinschwärmer und der Wermutsmönch. * Ich
sehe noch heute, wie ich belächelt wurde, als ich als kleiner Junge auf
dem Höngger Hungerberg im waldigen Wehrenbachtobel mit einem Stück
Hanfschnur an einer flachen Staupfütze bei einer Holzbrücke sass und
fischte. Für mich war da in diesem nur zentimetertiefen Gerinsel ein
Fisch drin. Nicht ein Fischchen. Ein wirklich stattliches Ding. Und es
wunderte mich, weshalb die grossen Menschen die mir von der etwas übertrieben
Brücke aus, die der Verschönerungsverein Höngg gestiftetet hatte,
zuschauten, diesen Fisch nicht sahen. Es lag mir nichts daran, ihn
ihretwegen zu fangen. Ich brauchte ja keine Beweise. Deshalb brauchte ich
auch keine bessere Angelrute, keinen Nylonsilch. Es genügten zwei Meter
Hanfschnur, ein Korkzapfen und ein gekrümmter Nagel. Der Fisch aber, das
musste ich ja zugeben, war ein schlauer Kerl. Er war so perfekt in seiner
Tarnung, dass überhaupt nur ich ihn sehen konnte, weil ich Tage mit ihm
verbrachte. Die Enttäuschung blieb mir damals erspart, dass ich eines
Tages so weit käme, ihn nun tatsächlich fangen zu wollen. Darin hätte
dann der Zweifel schon gelauert, ob er vielleicht doch nicht da wäre. Und
mit diesem Nagetier fällt man die schönsten Bäume, die man im Herzen trägt. * Wir
möchten doch den Fund unserem Suchen zuschreiben. Was bedeutet aber ein
Suchen ohne Fund? Ich muss aber eingestehen, dass das, was mir zufällt
nicht einmal meinem Finden zu verdanken ist. Der Zufall ist ja keine
Erfindung von uns. Von Picasso ist der Ausspruch überliefert: “Ich
suche nicht, ich finde.“ Wie aber ist das möglich, etwas zu finden, was
man nicht sucht? Auf dem Pausenhof des Imbisbühl Schulhauses befand sich
neben dem grossen geteerten Platz eine Sportanlage mit Kletter - und
Turnstangen. Die Anlage war umfasst mit einem Granitsteinmäuerchen und
gefüllt mit einem gelblichen Sand. Er stammte nicht aus einer Kiesgrube,
sondern von einem Meerestrand. Die gerundeten Körnern eigneten sich
hervorragend um barfuss darauf zu turnen und zu spielen. Sie bestanden
aber nicht aus Überresten von Muscheln sondern es waren kleine
granitartige Steinchen. Und der Sand verströmte einen eigenartigen
Geruch, ganz anders als die feuchte Süsslichkeit des Sandes aus den
Kiesgruben. Schon bald hatte man als Erstklässler von den älteren
Schulkameraden gehört, dass in diesem Sand Haifischzähne zu finden
seien. Und den ungläubig staunenden Frischlingen präsentierte man dann
stolz ein paar dieser grauen, dreieckigen, scharf zulaufenden und manchmal
wie eine Messerklinge am Rande in Rillen geschliffenen Zähnchen. So
hockte man sich also auch in den Sand und suchte, pflügte den halben
Turnplatz um und tatsächlich fand man da auch immer wieder solche Zähnchen.
Zum Turnen gehörte damals also die Vorstellung von den Zähnen der
Haifische. Und wenn man beim Spielen in den Sand fiel und ein Körnchen in
den Mund geriet oder der Staub in die Nase drang, dann roch es nach einem
Meer, salzig und exotisch. Ohne die Erfahrung des wirklichen Meergeruchs
musste man aber annehmen es sei der Schweiss der geschundenen Kinder, der
dem Sand diesen sonderbaren Geruch verlieh. Man kann ja als Siebenjähriger
noch nicht zynisch sein, sonst hätte man bestimmt behauptet, die Zähne
stammten von Lehrer Müller, der in seinem kahlgeschorenen
Frontkommandoton, uniformiert mit seiner blauen, knielangen Arbeitsschürze
seine Setzlinge auf die Kletterstangen hetzte, als gelte es sich, vor ihm
auf der Stange in Sicherheit zu bringen. Lugten nicht aus seiner
Brusttasche immer diese brutal gespitzten Bleistifte hervor, die so an
diese Haifischzähne erinnerten, die unter seinen Füssen im Sand
knirrschten? Die Vorstellung der Haifische war jedenfalls seither für
mich nicht mehr von der Turnstunde zu trennen, auch wenn später Tartanbeläge
und Aschenplätze, den Haifischsand verdrängten. Habe ich diese
Gebissreste der Haie gesucht? Nein, ihre Gegenwart dort hat doch mich
gesucht. Daniels Heimsuchung durch die Haifischzähne. Ich habe diese Zähne
auch nicht gefunden. Sie haben vielmehr mich gefunden. Es steckt also im
Ausspruch von Picasso eine unerhörte Anmassung: „Ich finde. Alles geht
von mir aus. Ich bin der Schöpfer.“ Diese Anmassung will ich nicht
Picasso anlasten. Es sind ja wohl eher die Erben und Galeristen und Kunsthändler,
die solche Slogans verwenden. Ganz praktisch, als Werbung. Dieses Bild des
unerreichbaren, künstlerischen Genies als ein Gott wird gierig von den
Anbetern und Konsumenten ihrer Produkte aufgesogen. Ein hochgradig pubertäres
Verhalten.Aber Alltag in der Kunstwelt. Wohl deshalb, weil bei den meisten
Menschen heute die Erfahrung des Schöpferischen genau da, in der Pubertät,
abgebrochen ist. Durch diesen inneren Verlust entsteht in der Äusseren
Welt sogleich ein Gegenüber. Ganz real nun. Ein goldenes Kalb. Man findet
das, was in uns versunken ist, dann plötzlich aussen. Es ist dieses
Versunkene und Untergegangene, dieses Zu- und Abgedeckte in uns, das sich
plötzlich mit einem Bild meldet. Es sucht und und findet uns, damit wir
mit ihm wieder in Verbindung treten. All das, was wir aufgegeben haben,
was wir aus Enttäuschung in uns auf die Abfallhalde geworfen haben, das lässt
uns nicht im Stich. Wir werden daran erinnert. Immer wieder daran
erinnert. Unser Finden ist unsere eigene Erinnerung. Es heisst doch in der
Bergpredigt : „Suchet und ihr werdet finden.“ Eben, könnte man
einwenden! Es heisst da ja nicht „Suchet nicht, ihr werdet schon
gefunden.„ Und es heisst auch nicht „Suchet nicht und ihr findet!“
Die Rede ist da aber nicht von der äusseren Welt. Die Rede ist von
unserem Verborgenen, von dem was im Berg, worauf die Predigt gehalten
wird, verborgen ist. Die ganze Predigt wendet sich an unser Verborgenes.
Und die ganze Predigt wendet sich an die, die schon gefunden wurden von
ihrer Erinnerung. Nun sollen sie darin suchen und es wird verheissen, dass
dann auch gefunden wird. * Es
gibt ein Zeichen für das Gefühl, gefunden zu werden. Die Freude, die
Liebe, das Glück. Dies alles ist nicht zu empfinden wenn das Finden in
eine Geschäftsbeziehung zu unserem Suchen gestellt wird. Dann ist doch
Finden bloss noch Erfolg, das, was wir uns verdient haben, das was uns
zusteht, worauf wir Anspruch haben, Gegenleistung. Die Freude, die Liebe
und das Glück aber erzählen uns, dass wir etwas erhalten haben, was wir
nicht verdient haben, was uns eigentlich nicht zustünde und worauf wir
eigentlich keinen Anspruch erhoben haben. Ein Geschenk, unerwartet und
unabhängig von dem was wir tun. Wir gaben nur vor, als Mittelstürmer ein
Tor schiessen zu wollen. Das Tor fällt, wenn es ihm passt. Damit aber
schreibt man keine Geschichten mehr über Macht, Erfolg, Wille,Tatkraft
und Genies. Und die Angelegenheit wird vielen dann zu kompliziert. Man
sagt dann, man verstehe nicht mehr. 21.
August: Die
Raupen des Admiral wachsen schnell heran. Die Grundfärbung des Falters
ist Dunkelbraun mit leuchtendrotem Band auf der Oberseite der Vorder- und
Hinterflügeln und weissen Flecken in den schwarzen Spitzen der Vorderflügel.
Die Unterseite der Fllügel ist geteilt in einen meist verdeckten farbigen
Vorderflügel, aus welchem das rote Band und einzelne weisse Flecken auf
schwarzem, manchmal auch blauschimmerndem Grund aufleuchten, wenn der
Falter die Flügel ausbreitet. Der Falter ist im Flug also auch vom Boden
aus erkennbar, was bei einem Tagpfauenauge, oder beim Kleinen Fuchs sehr
schwierig ist. Der Admiral ist überall in Europa häufig, besonders im Spätsommer.
Er fliegt von März bis November und kann im Norden mehrere Generationen
bilden. Die Raupe lebt ausschliesslich auf Brennessel, meist in einem
zusammengesponnen Blatt. Eiablage einzeln an die Blattunterseite der
Futterpflanze. Stürzpuppe in Felsspalten oder in der Bodenvegetation. Die
Raupe ähnelt in der Jugend am ehesten noch dem Landkärtchen. Ihre Dornen
sind verästelt, sie trägt hellgrüne Streifen im Kleid, und selbst die
Dornen können deutlich heller sein, als der fast schwarze Grundton des
Raupenkörpers. Der Admiral ist ein Einzelgänger. Er überwintert im Süden
als Falter. Nördlich der Alpen überlebt er die kalte Jahreszeit aber
nicht. Jedes Jahr wandert er aus dem Mittelmeerraum nach Zentral- und
Nordeuropa und macht dort eine bis zwei Folgegenerationen. Ein Teil dieser
Falter wandert im Herbst zurück in den Süden, der Grossteil der Admirale
nördlich der Alpen erfiert jedoch, entweder auf dem beschwerlichen Flug
über die Alpen oder in den Verstecken im Norden. Der Admiral ist wohl der
einzige heimische Tagfalter, der auch bei völlig verdecktem Himmel, ja
selbst bei leichtem Regenfall fliegt. Im Herbst trinken die Falter gerne
an faulenden Früchten. Wandernde Tiere fliegen sehr rasch und
zielgerichtet knapp über dem Boden. Kommen sie an ein Hindernis, so wird
dieses nicht um- sondern ganz knapp überflogen. Die Admirale fliegen auf
ihren Wanderungen selbst gegen starken Gegenwind. Sie wandern nicht in
Schwärmen, sondern als Einzeltiere. 26.
August. Ein
windiger, stürmischer Tag. Kein Flugwetter für Schmetterlinge. Nicht mal
für den Admiral. Der Regen peitscht in dünnen Tröpfchen fast waagrecht
über den Mauerstreifen in mein Gesicht und durch die beiden Risse in den
Jeans über dem Knie an meine Beine. Ich hole nochmals einen Busch
frischer Brennesseln. Dabei lasse ich mich absichtlich nesseln. Es scheint
mir zu helfen gegen die Nervosität und das Warten, gegen die Vergiftung
und die Entzündung durch Ungeduld, wenn man sie nicht ausscheiden kann
oder will. Zurückgekehrt ins Atelier schüttle ich die Regentropfen von
den Nesseln. Dann suche ich in den alten Futterpflanzen die Verstecke der
Raupen. Vorsichtig öffne ich ein Blätterhaus um den Admiral auf die
frischen Weide umzusiedeln. Ich muss aber erkennen dass , dass dies nicht
mehr möglich sein würde. Zusammengekrümmt liegt ein raupenkörper neben
einem wolkigen, dichten Gespinst. Kleine, weissliche Maden dringen durch
die Haut der Raupe, verlassen den ausgezehrten, geschrumpften Körper, um
sich im Gespinst zu verkriechen. Die Raupe lebt noch, sie ist aber kaum zu
einer bewegung fähig, gelähmt und erschöpft wartet sie auf ihren Tod.
Drei der Maden lege ich sogleich in ein Glasfläschchen mit hundert
Tropfen Alkohol, die übrigen gebe ich mitsamt des Gespinstes in eine
Flasche, um das Schlüpfen der winzigen Schlupfwespen abzuwarten. Die
zweite Admiralsraupe erleidet dasselbe Schicksal wenige Tage später. Es
ist kein Trost im Gedanken, dass die beiden Raupen, wenn sie ausgeschlüpft
und zu Falter geworden wären den Winter sowieso nicht überlebt hätten.
Es wurde ihnen nicht mal vergönnt, Falter zu werden. Nicht von mir wurde
es vergönnt, von den Schlupfwespen ja auch nicht. Die können ja nichts
dafür. Aber es muss ein Rätsel darin liegen, dass sich die Aufgaben
dieser beiden Admirale schon in der Raupe erfüllt hatten. Als Gedanke ist
sowas schlicht eine Frechheit, ein Ärgernis, Selbstbelügung. So tief
sinkt man, wenn man versucht seine Wut und seine Anklage zu besänftigen
und zu betäuben und sich einzureden, dass mein Gefühl eben nicht richtig
ist. Doch. Es ist aber ganz aufrichtig. Es ist eine wütende Frage:
Weshalb können nicht alle Menschen hundert Jahre alt werden? Weshalb müssen
viele schon als
Kinder sterben, oder bevor sie zur Welt gekommen sind? Und wer sagt
denn, dass dies schon gut sei? Nein, es tut doch weh, und man wünscht
zutiefst im Herzen. Komme mir einer der sagt, es ist schon recht dass die
kleinen Kinder sterben. Da können alle Freunde Hiob nicht helfen. Es ist
ja nicht verwunderlich, dass dem Glauben in dieser Hinsicht des Trostes,
der saure Geruch des Zynischen anhaftet. Oder eben Feigheit zuzugestehen,
dass es uns im Innersten weh tut und vollständig unverständlich ist, was
da geschieht. Ein „Fehler“ des Glaubens ist das. Der, der etwas aus
Liebe und mit Hingabe tut, kann keine Belohnung erwarten. Genau er nicht?
Weshalb? Wenn ein Vater sein Kind schlägt, weil sein Vater ihn geschlagen
hat und sein geschlagenes Kind wiederum sein Kind schlägt, und ein Kind
zur Welt kommt, das von seinem Vater geschlagen wurde und es schlägt
seine eigenen Kinder nicht. Weshalb wird denn gerade dieses Kind, das
nicht auch schlägt, weil es geschlagen wurde noch dadurch gestraft, dass
es all den Schmerz des Nichtschlagens ertragen muss? Es unterbricht doch
die Kette der Gewalt. Und es ist doch so schwierig, das selbst erfahrene
Unrecht nicht weiterzugeben, es zu schlucken und nicht weiterzugeben. Das
ist doch noch schwieriger als zu schlagen. Weshalb ist das Gute mit soviel
Leid verbunden, mit soviel Entsagung? Wir beten ja immer „Führe uns
nicht in Versuchung , sondern erlöse uns von dem Bösen!“ Hört er denn
nicht? Ja doch, er hört ja schon, aber diese Welt wurde geschaffen, damit
der Mensch selbst der Versuchung widerstehen kann. So, wie er ihr auch
verfallen kann. Es gibt aber keine Garantie, keinen Freipass in den Himmel
hier auf Erden. Wir können selbst einem Mörder bei seiner Tat zuschauen
und sagen „Er weiss schon was er tut, Er weiss warum.“ Doch dann haben
wir unsere Gebete aufgegeben. Unsere Wünsche, dass nicht sein soll, dass
Kinder sterben und Raupen, bevor sie Schmetterlinge sind. Aufgegeben sind
sie. Was ist ein Wunsch anderes als ein Verlangen nach dem Sieg des Guten
in der Zweiheit von Gut und Böse. Wer aber wollte behaupten, er stünde
auf der Seite der Guten? Wir wissen zwar , dass wir zwischen diesem Gut
und Böse nicht entscheiden können, aber wir wünschen, dass das Gute
siegt, auch hier auf Erden. Und wir hören ja, dass diese Welt zum Guten
gemacht ist. Sind wir so blind? Wieviel vermögen wir hinzunehmen an
Unverzeihlichem und Ungerechtem ohne dabei gleichgültig zu werden? Wer
vermag uns unsere Wünsche zu stehlen?
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