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Admiral Vanessa Atalanta
 

17. August 1995: 

Fast täglich wechselte ich die Futterpflanzen für die Aufzucht der Raupen des Tagpfauenauges. Die skelettierten Schosse warf ich weg. Beim Ausmisten meiner Raupenstallungen hatte ich jedoch eine Colabüchse mit noch recht frischen Brennesseln auf einem Werktisch des Ateliers stehen gelassen. Ich trennte jeweils von den Aluminiumbüchsen den oberen Teil mit einer Schere weg und verwendete sie als Vase. So hatte der halb abgefressene Strauss von Brennesselzweigen ein paar Tage schon im Schutz der Vergessenheit in Fensternähe geruht, bis heute mein Blick wieder auf ihn fiel. Zu meinem grossen Erstaunen bemerkte ich da eine Raupe, die aus dem Dickicht des Strausses zu einem äussersten Blatt gekrochen war. Zunächst dachte ich es sei eine Raupe des Landkärtchens, da sie eine ähnliche Behaarung aufwies und die Landkärtchenraupen mit den Raupen des Tagpfauenaugen das Gehege teilten, aus welchem dieser Futterstrauss stammte. Als ich aber genauer hinsah erkannte ich die Raupe als die des Admirals. Sie musste mit dem Futter, wahrscheinlich noch als Ei, unbemerkt in mein Atelier gelangt sein. Da schlüpfte die Raupe auf dem vergessenen Büschel und frass sich im Schutz des Dickichts zwischen den zusammenlaufenden Stiele gross. Nun aber, da einige der Nesseln bereits dürr geworden waren, hatte sie der Hunger aus ihrem Versteck getrieben. Und so fand ich sie auf der Oberseite eines Blattes am hellen Morgen. Eine ungewöhnlich exponierte ja verzweifelte Lage für einen Admiral, dessen Raupe im Schutze eines Hauses aus mit Fäden zusammengeklebten Blättern lebt und frisst. Bei der genaueren Untersuchung der vergessenen Brennesseln, entdeckte ich noch eine zweite Raupe des Admirals. Beide verlegte ich danach in ein Gehege und fütterte sie mit frischen Brennesseln, in welchen sie sich sofort wieder vor meinen Blicken verbargen. Ich freute mich über diesen Fund, denn meine Suche nach einem Admiral oder einem Distelfalter auf dem Mauerstreifen war bisher erfolglos geblieben. Wieder und wieder hatte ich die Brennesselbüsche, die Eseldisteln und Kratzdisteln abgesucht. Vergeblich. Ich empfand dabei, dass das Finden nicht Belohnung für die Suche ist. Ja, es scheint zwischen der Anstrengung und dem Erfolg kein kausaler Zusammenhang zu bestehen. Die Suche nach A ist doch nur unter Vernachlässigung von B-Z zu bewerkstelligen. Die Hierarchie der Belohung muss vom Suchenden festgelegt werden. Wenn ich nach Steinpilzen suche ist die Begegnung mit Reizkern oder einem Büschel Hallimasche auf einem Fichtenstock fast schon eine Beleidigung, Provokation: Etwas Minderwertiges begegnet meinen hohen Zielen. Wir können mit verächtlichem Blick an den niederen Pilzen vorbeigehen. Vielleicht aber bleiben wir doch stehen. Der Stockschwamm scheint dann unsere Standfestigkeit zu prüfen. Und ob wir bereit wären die Prioritäten unserer Suche umzustossen. Ob wir uns vielleicht doch mit ihm begnügten? Diesen leichten Sieg mögen wir dem Steinpilz aber meist nicht gönnen. Jagd ist etwas Stures. Wer lädt den Elefantentöter um schliesslich auf Kaninchen und mit der Kanone auf Spatzen zu schiessen? Was für eine Niederlage der Absicht, wenn man im Anglergeschäft einen Hechtlöffel kauft, ein Stahlvorfach an den 30-Kilo-Silch montiert und schliesslich mit der Handangel nach Moderlieschen fischt? Die aktive, zielgerichtete Suche ist immer auch Auflehnung gegen das, was uns zugemessen ist, eine Art von Selbstverweigerung. Die Erwartung entstammt ja nicht uns, sondern dem, was wir gerne sein wollten. Wir weigern uns, das Mass unseres Findens zugeteilt zu erhalten. Das ist Trotz. Man möchte dann in der Wut und Enttäuschung die Stockpilze zertreten, weil man glaubt, dass in ihnen eine Erniedrigung unserer hohen Ansprüche enthalten sei.

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Die Entdeckung der beiden Admiralsraupen konnte ich nicht meiner tätigen Suche zuschreiben. Es war doch nur Zufall. In ihm mischt sich die Verhöhung des absichtvollen Tuns mit der Gnade des Geschenks. Hätte ich jemandem zu erklären versucht, dass ich in meinem Atelier nach den Raupen des Admirals suche, wäre wahrscheinlich die Einlieferung in eine Psychiatrische Anstalt erwogen worden. Man hätte mir in der Angst um meine Zurechnungsfähigkeit zu erklären versucht, dass doch der Admiral da draussen lebe, auf der Wiese. Nun aber konnte ich entgegnen: „Ja , vielleicht. Aber ich habe doch schon zwei Admirale in meinem Atelier gefunden!“ Kaum jemand lässt sich auf solche Diskussionen ein, obwohl gerade in ihnen ein grosser Reichtum steckt. Und selbst wenn ich keine Admiralsraupen gefunden hätte in meinem Atelier, können da zwischen meinen Farbtöpfen und Werkzeugkisten und Papieren und Dokumenten für mich Admiralsraupen anwesend sein. Ja, in Wirklichkeit sind da auch alle anwesend, die ich noch nicht gefunden habe, das Grosse Nachtpfauenauge, der Trauerfalter, der Mondfleck, Weinschwärmer und der Wermutsmönch.

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Ich sehe noch heute, wie ich belächelt wurde, als ich als kleiner Junge auf dem Höngger Hungerberg im waldigen Wehrenbachtobel mit einem Stück Hanfschnur an einer flachen Staupfütze bei einer Holzbrücke sass und fischte. Für mich war da in diesem nur zentimetertiefen Gerinsel ein Fisch drin. Nicht ein Fischchen. Ein wirklich stattliches Ding. Und es wunderte mich, weshalb die grossen Menschen die mir von der etwas übertrieben Brücke aus, die der Verschönerungsverein Höngg gestiftetet hatte, zuschauten, diesen Fisch nicht sahen. Es lag mir nichts daran, ihn ihretwegen zu fangen. Ich brauchte ja keine Beweise. Deshalb brauchte ich auch keine bessere Angelrute, keinen Nylonsilch. Es genügten zwei Meter Hanfschnur, ein Korkzapfen und ein gekrümmter Nagel. Der Fisch aber, das musste ich ja zugeben, war ein schlauer Kerl. Er war so perfekt in seiner Tarnung, dass überhaupt nur ich ihn sehen konnte, weil ich Tage mit ihm verbrachte. Die Enttäuschung blieb mir damals erspart, dass ich eines Tages so weit käme, ihn nun tatsächlich fangen zu wollen. Darin hätte dann der Zweifel schon gelauert, ob er vielleicht doch nicht da wäre. Und mit diesem Nagetier fällt man die schönsten Bäume, die man im Herzen trägt.

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Wir möchten doch den Fund unserem Suchen zuschreiben. Was bedeutet aber ein Suchen ohne Fund? Ich muss aber eingestehen, dass das, was mir zufällt nicht einmal meinem Finden zu verdanken ist. Der Zufall ist ja keine Erfindung von uns. Von Picasso ist der Ausspruch überliefert: “Ich suche nicht, ich finde.“ Wie aber ist das möglich, etwas zu finden, was man nicht sucht? Auf dem Pausenhof des Imbisbühl Schulhauses befand sich neben dem grossen geteerten Platz eine Sportanlage mit Kletter - und Turnstangen. Die Anlage war umfasst mit einem Granitsteinmäuerchen und gefüllt mit einem gelblichen Sand. Er stammte nicht aus einer Kiesgrube, sondern von einem Meerestrand. Die gerundeten Körnern eigneten sich hervorragend um barfuss darauf zu turnen und zu spielen. Sie bestanden aber nicht aus Überresten von Muscheln sondern es waren kleine granitartige Steinchen. Und der Sand verströmte einen eigenartigen Geruch, ganz anders als die feuchte Süsslichkeit des Sandes aus den Kiesgruben. Schon bald hatte man als Erstklässler von den älteren Schulkameraden gehört, dass in diesem Sand Haifischzähne zu finden seien. Und den ungläubig staunenden Frischlingen präsentierte man dann stolz ein paar dieser grauen, dreieckigen, scharf zulaufenden und manchmal wie eine Messerklinge am Rande in Rillen geschliffenen Zähnchen. So hockte man sich also auch in den Sand und suchte, pflügte den halben Turnplatz um und tatsächlich fand man da auch immer wieder solche Zähnchen. Zum Turnen gehörte damals also die Vorstellung von den Zähnen der Haifische. Und wenn man beim Spielen in den Sand fiel und ein Körnchen in den Mund geriet oder der Staub in die Nase drang, dann roch es nach einem Meer, salzig und exotisch. Ohne die Erfahrung des wirklichen Meergeruchs musste man aber annehmen es sei der Schweiss der geschundenen Kinder, der dem Sand diesen sonderbaren Geruch verlieh. Man kann ja als Siebenjähriger noch nicht zynisch sein, sonst hätte man bestimmt behauptet, die Zähne stammten von Lehrer Müller, der in seinem kahlgeschorenen Frontkommandoton, uniformiert mit seiner blauen, knielangen Arbeitsschürze seine Setzlinge auf die Kletterstangen hetzte, als gelte es sich, vor ihm auf der Stange in Sicherheit zu bringen. Lugten nicht aus seiner Brusttasche immer diese brutal gespitzten Bleistifte hervor, die so an diese Haifischzähne erinnerten, die unter seinen Füssen im Sand knirrschten? Die Vorstellung der Haifische war jedenfalls seither für mich nicht mehr von der Turnstunde zu trennen, auch wenn später Tartanbeläge und Aschenplätze, den Haifischsand verdrängten. Habe ich diese Gebissreste der Haie gesucht? Nein, ihre Gegenwart dort hat doch mich gesucht. Daniels Heimsuchung durch die Haifischzähne. Ich habe diese Zähne auch nicht gefunden. Sie haben vielmehr mich gefunden. Es steckt also im Ausspruch von Picasso eine unerhörte Anmassung: „Ich finde. Alles geht von mir aus. Ich bin der Schöpfer.“ Diese Anmassung will ich nicht Picasso anlasten. Es sind ja wohl eher die Erben und Galeristen und Kunsthändler, die solche Slogans verwenden. Ganz praktisch, als Werbung. Dieses Bild des unerreichbaren, künstlerischen Genies als ein Gott wird gierig von den Anbetern und Konsumenten ihrer Produkte aufgesogen. Ein hochgradig pubertäres Verhalten.Aber Alltag in der Kunstwelt. Wohl deshalb, weil bei den meisten Menschen heute die Erfahrung des Schöpferischen genau da, in der Pubertät, abgebrochen ist. Durch diesen inneren Verlust entsteht in der Äusseren Welt sogleich ein Gegenüber. Ganz real nun. Ein goldenes Kalb. Man findet das, was in uns versunken ist, dann plötzlich aussen. Es ist dieses Versunkene und Untergegangene, dieses Zu- und Abgedeckte in uns, das sich plötzlich mit einem Bild meldet. Es sucht und und findet uns, damit wir mit ihm wieder in Verbindung treten. All das, was wir aufgegeben haben, was wir aus Enttäuschung in uns auf die Abfallhalde geworfen haben, das lässt uns nicht im Stich. Wir werden daran erinnert. Immer wieder daran erinnert. Unser Finden ist unsere eigene Erinnerung. Es heisst doch in der Bergpredigt : „Suchet und ihr werdet finden.“ Eben, könnte man einwenden! Es heisst da ja nicht „Suchet nicht, ihr werdet schon gefunden.„ Und es heisst auch nicht „Suchet nicht und ihr findet!“ Die Rede ist da aber nicht von der äusseren Welt. Die Rede ist von unserem Verborgenen, von dem was im Berg, worauf die Predigt gehalten wird, verborgen ist. Die ganze Predigt wendet sich an unser Verborgenes. Und die ganze Predigt wendet sich an die, die schon gefunden wurden von ihrer Erinnerung. Nun sollen sie darin suchen und es wird verheissen, dass dann auch gefunden wird.

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Es gibt ein Zeichen für das Gefühl, gefunden zu werden. Die Freude, die Liebe, das Glück. Dies alles ist nicht zu empfinden wenn das Finden in eine Geschäftsbeziehung zu unserem Suchen gestellt wird. Dann ist doch Finden bloss noch Erfolg, das, was wir uns verdient haben, das was uns zusteht, worauf wir Anspruch haben, Gegenleistung. Die Freude, die Liebe und das Glück aber erzählen uns, dass wir etwas erhalten haben, was wir nicht verdient haben, was uns eigentlich nicht zustünde und worauf wir eigentlich keinen Anspruch erhoben haben. Ein Geschenk, unerwartet und unabhängig von dem was wir tun. Wir gaben nur vor, als Mittelstürmer ein Tor schiessen zu wollen. Das Tor fällt, wenn es ihm passt. Damit aber schreibt man keine Geschichten mehr über Macht, Erfolg, Wille,Tatkraft und Genies. Und die Angelegenheit wird vielen dann zu kompliziert. Man sagt dann, man verstehe nicht mehr.

 

 

21. August:

 

Die Raupen des Admiral wachsen schnell heran. Die Grundfärbung des Falters ist Dunkelbraun mit leuchtendrotem Band auf der Oberseite der Vorder- und Hinterflügeln und weissen Flecken in den schwarzen Spitzen der Vorderflügel. Die Unterseite der Fllügel ist geteilt in einen meist verdeckten farbigen Vorderflügel, aus welchem das rote Band und einzelne weisse Flecken auf schwarzem, manchmal auch blauschimmerndem Grund aufleuchten, wenn der Falter die Flügel ausbreitet. Der Falter ist im Flug also auch vom Boden aus erkennbar, was bei einem Tagpfauenauge, oder beim Kleinen Fuchs sehr schwierig ist. Der Admiral ist überall in Europa häufig, besonders im Spätsommer. Er fliegt von März bis November und kann im Norden mehrere Generationen bilden. Die Raupe lebt ausschliesslich auf Brennessel, meist in einem zusammengesponnen Blatt. Eiablage einzeln an die Blattunterseite der Futterpflanze. Stürzpuppe in Felsspalten oder in der Bodenvegetation. Die Raupe ähnelt in der Jugend am ehesten noch dem Landkärtchen. Ihre Dornen sind verästelt, sie trägt hellgrüne Streifen im Kleid, und selbst die Dornen können deutlich heller sein, als der fast schwarze Grundton des Raupenkörpers. Der Admiral ist ein Einzelgänger. Er überwintert im Süden als Falter. Nördlich der Alpen überlebt er die kalte Jahreszeit aber nicht. Jedes Jahr wandert er aus dem Mittelmeerraum nach Zentral- und Nordeuropa und macht dort eine bis zwei Folgegenerationen. Ein Teil dieser Falter wandert im Herbst zurück in den Süden, der Grossteil der Admirale nördlich der Alpen erfiert jedoch, entweder auf dem beschwerlichen Flug über die Alpen oder in den Verstecken im Norden. Der Admiral ist wohl der einzige heimische Tagfalter, der auch bei völlig verdecktem Himmel, ja selbst bei leichtem Regenfall fliegt. Im Herbst trinken die Falter gerne an faulenden Früchten. Wandernde Tiere fliegen sehr rasch und zielgerichtet knapp über dem Boden. Kommen sie an ein Hindernis, so wird dieses nicht um- sondern ganz knapp überflogen. Die Admirale fliegen auf ihren Wanderungen selbst gegen starken Gegenwind. Sie wandern nicht in Schwärmen, sondern als Einzeltiere.

 

26. August.

 

Ein windiger, stürmischer Tag. Kein Flugwetter für Schmetterlinge. Nicht mal für den Admiral. Der Regen peitscht in dünnen Tröpfchen fast waagrecht über den Mauerstreifen in mein Gesicht und durch die beiden Risse in den Jeans über dem Knie an meine Beine. Ich hole nochmals einen Busch frischer Brennesseln. Dabei lasse ich mich absichtlich nesseln. Es scheint mir zu helfen gegen die Nervosität und das Warten, gegen die Vergiftung und die Entzündung durch Ungeduld, wenn man sie nicht ausscheiden kann oder will. Zurückgekehrt ins Atelier schüttle ich die Regentropfen von den Nesseln. Dann suche ich in den alten Futterpflanzen die Verstecke der Raupen. Vorsichtig öffne ich ein Blätterhaus um den Admiral auf die frischen Weide umzusiedeln. Ich muss aber erkennen dass , dass dies nicht mehr möglich sein würde. Zusammengekrümmt liegt ein raupenkörper neben einem wolkigen, dichten Gespinst. Kleine, weissliche Maden dringen durch die Haut der Raupe, verlassen den ausgezehrten, geschrumpften Körper, um sich im Gespinst zu verkriechen. Die Raupe lebt noch, sie ist aber kaum zu einer bewegung fähig, gelähmt und erschöpft wartet sie auf ihren Tod. Drei der Maden lege ich sogleich in ein Glasfläschchen mit hundert Tropfen Alkohol, die übrigen gebe ich mitsamt des Gespinstes in eine Flasche, um das Schlüpfen der winzigen Schlupfwespen abzuwarten. Die zweite Admiralsraupe erleidet dasselbe Schicksal wenige Tage später. Es ist kein Trost im Gedanken, dass die beiden Raupen, wenn sie ausgeschlüpft und zu Falter geworden wären den Winter sowieso nicht überlebt hätten. Es wurde ihnen nicht mal vergönnt, Falter zu werden. Nicht von mir wurde es vergönnt, von den Schlupfwespen ja auch nicht. Die können ja nichts dafür. Aber es muss ein Rätsel darin liegen, dass sich die Aufgaben dieser beiden Admirale schon in der Raupe erfüllt hatten. Als Gedanke ist sowas schlicht eine Frechheit, ein Ärgernis, Selbstbelügung. So tief sinkt man, wenn man versucht seine Wut und seine Anklage zu besänftigen und zu betäuben und sich einzureden, dass mein Gefühl eben nicht richtig ist. Doch. Es ist aber ganz aufrichtig. Es ist eine wütende Frage: Weshalb können nicht alle Menschen hundert Jahre alt werden? Weshalb müssen viele schon als  Kinder sterben, oder bevor sie zur Welt gekommen sind? Und wer sagt denn, dass dies schon gut sei? Nein, es tut doch weh, und man wünscht zutiefst im Herzen. Komme mir einer der sagt, es ist schon recht dass die kleinen Kinder sterben. Da können alle Freunde Hiob nicht helfen. Es ist ja nicht verwunderlich, dass dem Glauben in dieser Hinsicht des Trostes, der saure Geruch des Zynischen anhaftet. Oder eben Feigheit zuzugestehen, dass es uns im Innersten weh tut und vollständig unverständlich ist, was da geschieht. Ein „Fehler“ des Glaubens ist das. Der, der etwas aus Liebe und mit Hingabe tut, kann keine Belohnung erwarten. Genau er nicht? Weshalb? Wenn ein Vater sein Kind schlägt, weil sein Vater ihn geschlagen hat und sein geschlagenes Kind wiederum sein Kind schlägt, und ein Kind zur Welt kommt, das von seinem Vater geschlagen wurde und es schlägt seine eigenen Kinder nicht. Weshalb wird denn gerade dieses Kind, das nicht auch schlägt, weil es geschlagen wurde noch dadurch gestraft, dass es all den Schmerz des Nichtschlagens ertragen muss? Es unterbricht doch die Kette der Gewalt. Und es ist doch so schwierig, das selbst erfahrene Unrecht nicht weiterzugeben, es zu schlucken und nicht weiterzugeben. Das ist doch noch schwieriger als zu schlagen. Weshalb ist das Gute mit soviel Leid verbunden, mit soviel Entsagung? Wir beten ja immer „Führe uns nicht in Versuchung , sondern erlöse uns von dem Bösen!“ Hört er denn nicht? Ja doch, er hört ja schon, aber diese Welt wurde geschaffen, damit der Mensch selbst der Versuchung widerstehen kann. So, wie er ihr auch verfallen kann. Es gibt aber keine Garantie, keinen Freipass in den Himmel hier auf Erden. Wir können selbst einem Mörder bei seiner Tat zuschauen und sagen „Er weiss schon was er tut, Er weiss warum.“ Doch dann haben wir unsere Gebete aufgegeben. Unsere Wünsche, dass nicht sein soll, dass Kinder sterben und Raupen, bevor sie Schmetterlinge sind. Aufgegeben sind sie. Was ist ein Wunsch anderes als ein Verlangen nach dem Sieg des Guten in der Zweiheit von Gut und Böse. Wer aber wollte behaupten, er stünde auf der Seite der Guten? Wir wissen zwar , dass wir zwischen diesem Gut und Böse nicht entscheiden können, aber wir wünschen, dass das Gute siegt, auch hier auf Erden. Und wir hören ja, dass diese Welt zum Guten gemacht ist. Sind wir so blind? Wieviel vermögen wir hinzunehmen an Unverzeihlichem und Ungerechtem ohne dabei gleichgültig zu werden? Wer vermag uns unsere Wünsche zu stehlen?  

 

 
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