Brücke ins neue Jahrtausend    zh2000.ch     dokumente

>>>

Brief vom 19.10.98

Lieber Urs

Von Dir höre ich viel zu wenig. Nimm dies aber nicht als selbstmitleidige, vorwurfsvolle Klage. Das Vermissen des menschlichen Kontaktes scheint das Leit-Symptom des Informationszeitalters zu sein.

Gestern hörte ich auf der Rückfahrt von Braunschweig eine Sendung im Hessischen Rundfunk, an welcher Prof. Hilmar Hoffmann teilnahm, der in den 70-er Jahren den Begriff "Kultur für Alle" prägte. Damals, in den Zeiten, als die Stadt Frankfurt noch stolz darauf war, die Stadt mit dem grössten Kulturétat der Bundesrepublik zu sein (11% des Staatshaushaltes), wurden gleich reihenweise Museen gebaut, um den Bewohnern nahezulegen, dass Kultur ein Luxus ist, den sich in dieser Welt nur der Mensch gönnen kann. Luxus ist gleichbedeutend mit überflüssig; und Kultur ist demnach so überflüssig wie die Liebe, königlicher Luxus des Menschen, die doch auch weder nützlich, weder praktisch verwendbar noch im mindesten erwiesen oder beweisbar ist. Was aber, wenn der Mensch meint, er könnte sich den Luxus der Kultur oder den Luxus der Liebe nicht mehr leisten?

In dieser Dynamik, dass Kultur fraglich geworden ist, stecken wir mitten drin. Die Haushalte und Budgets werden nach Sachzwängen, Nützlichkeiten, materiellen Prioritäten und Notwendigkeiten durchforstet, neu geordnet und zuerst wird immer bei der Kultur gespart, was nicht nur logisch, sondern eigentlich sogar vernünftig ist, denn der Staat ist ein zweckmässiges Gebäude, dessen oberste Pflicht nicht darin besteht sich selber mit Kultur zu schmücken, sondern dafür zu sorgen, dass sich in seinem Gebäude Kultur ereignen kann. Abgesehen davon: Jeder würde, wenn Wasser knapp wäre, zuerst das Abfliessende und Überflüssige zurückbehalten. Manchmal geschieht dies auch im Leben des Menschen, dass er, wenn er unter Druck gerät - zuerst bei der Liebe spart und zuerst auf die Liebe verzichtet. In diesem Falle hingegen kann man nicht mehr von Vernunft und Logik sprechen, im Gegenteil; da hört die Gleichsetzung von Kultur und Liebe auf.

Wir sind unterwegs zu erfahren, dass die Verquickung von materiellem und kulturellem Reichtum sich auflöst. War es eine Scheinehe? Andererseits bewegen wir uns unweigerlich auf den Punkt zu, an welchem echte Überzeugungen gefragt sind, wenn jemand in solchem Umfeld, und eben gerade in diesem Umfeld sich dafür entscheidet, am Überflüssigen festzuhalten und dem Menschen das Glück des Überflusses zu gönnen, statt es ihm genau dann zu entziehen, wenn er am meisten danach dürstet.

Ich war nie ein intimer Freund staatlicher Kulturförderung, weil der Staat als Konstrukt und Institution der Verwaltung des Gemeinwesens den Bürger nicht lieben kann. Der Staat kann - wie ein Elternpaar, das seine Fürsorglichkeit ausschliesslich organisatorisch, sprich: mit Geld regelt - seinen Kindern keine Kultur schenken, weil sich das Geschehen der Kultur in der Begegnung zwischen Menschen ereignet und nie zwischen funktionalen Einrichtungen.

Ich zweifle nicht daran, dass der Staat seine Aufgabe ernst nimmt, seine Mittel denjenigen anzuvertrauen, die für solche Begegnungen zwischen Menschen Räume öffnen; immer wieder neue Räume für immer wieder neue Begegnungen. Man könnte mir vorwerfen - da ich mich einst pointiert für eine Trennung von Staat und Kultur aussprach - dass ich die Kultur zur Privatsache des Bürgers machen wolle. Dies ist insofern richtig, als Kultur - wie Liebe auch - immer Privatsache des Menschen bleibt und der Staat zwar für die Rahmenbedingungen, nicht aber für das Geschehen der Kultur sorgen kann. Der Bürger kann den Entscheid zur Kultur und zur Liebe nicht delegieren. Die Freiheit in seiner Entscheidung kann er nicht Anderen, Stellvertretenden übertragen. Er würde sich damit entmenschlichen. Die Unterscheidung zwischen Kultur, als Ereignis des Menschseins in der Gesellschaft, und dem Staat, als Gebäude der Gemeinschaft, in welcher sich der einzelne als Mensch ereignen kann, - die Befähigung zu solcher Unterscheidung ist ausschlaggebend für jede Diskussion über Kunst, Kultur, Menschsein.
Auch in der Frage der Trennung von Kirche und Staat und der Trennung von Staat und Bürger oder Kirche und Gläubigem bleibt diese Befähigung zur Unterscheidung zentral. Die Frage will dabei keineswegs eine lange und fruchtbare Ehe zerschlagen. Sie will vielmehr die Grenze wieder klar machen, damit erneut eine Begegnung stattfinden kann zwischen den einzigartigen, also ungleichen Partnern. Das Geschehen des Glaubens und die Verwirklichung religiöser Ideen lässt sich so wenig verordnen, wie das Geschehen der Kultur und der Liebe.

Die Grenze, die im Denken gezogen wird, genügt sich nicht darin eine Unterscheidung zu machen zwischen Mir und Dir, Hier und Dort, Dieseits und Jenseits, Profanem und Heiligem. Sie ist nicht gezogen, damit der eine behaupten kann, der Staat sei heilig und der nächste mit demselben Recht behaupten kann, der einzelne Mensch sei heilig. Die Grenze weist darauf hin, dass das Heilige sich in der Qualität des Verhältnisses zwischen Einzelnem und Staat äussert. So auch in der Liebe: Es kann - sobald die Unterscheidung zwischen Männlich und Weiblich, Himmel und Erde, Geist und Materie gemacht wird - niemals darum gehen den Mann oder die Frau oder beide oder keinen heilig zu sprechen. Das Heil liegt einzig in der Qualität ihrer Beziehung. Diese Qualität ist als Ereignis der Liebe immer Privatsache, einbehalten als unveräusserliches Geheimnis der Begegnung. Kultur, Liebe , Glauben wird bewahrt und gehütet in der Empfänglichkeit des Einzelnen.

Daraus könnte man leicht folgern: "Dann gibt es keine materielle, keine erscheinende Kultur. Alle Kultur bleibt in der Wahrheit einer inneren Haltung des Menschen unbegreifbar und unfassbar verborgen!" Ja, und doch auch: Keineswegs! Es existieren keine immateriellen Werte der Kultur. Alles, was Wert ist, äussert sich im Leben des Menschen, wie auch immer. An eben diesem Punkt der Wertigkeit, der Haltung auch, ist die Unterscheidung zwischen Innen und Aussen gleichsam aufgehoben: Zum Wesen der Wahrheit gehört, dass sie nie verstellt ist. Sie wäre sonst nicht Wahrheit, sondern offenbar immer nur Lüge.

Man kann sich nicht auf die Transzendenz berufen, im Innern, im Verborgenen etwas zu sein, was nicht offenbar ist. Man kann dies nicht deshalb nicht, weil es nicht wahr wäre, sondern, weil man wahrhaftig nur hoffen kann und wünscht, dass dies innerste Gut in die Welt kommen möge, und hier erscheinen könne. Oder, im Bild der Liebe gesprochen: Die Liebe, als Qualität der Beziehung zwischen Mann und Frau, soll sich äussern, soll fruchtbar sein, als Kind zum Beispiel, in welchem das Geheimnis der Liebe Fleisch wird. Die Liebe äussert sich aber nicht einfach im Kindersegen. Dies zu behaupten wäre wiederum eine nur äusserliche, einseitige, ja verräterische Betrachtungsweise der Liebe. Die Liebe und die Kultur äussern sich im Tun des Menschen, in all seinen Äusserungen, seinem Sprechen, Arbeiten, Schreiben, Malen, Singen, Tanzen aber auch im Streiten, Kämpfen und Ringen um seinen Ort und seine Gültigkeit.

In dieser Hinsicht täuscht man sich leicht und gerne: Man meint, dass alles, was hier und jetzt nicht geschieht, irgendwo anders sozusagen kompensiert wird, als transzendente Strahlung des Wunsches oder dergleichen. Es exististiert aber keine Kommunikation, keine Kultur und keine Liebe auf einer psychedelischen PSI Ebene. Es gibt keine Telepathie. Zumindest ist eine telepathhische Kultur und eine telepathische Liebe nicht Wirklichkeit; eben, weil sie nicht existiert, nicht herausgestellt ist in die Wirklichkeit dieser Welt. Und weil ihr diese Wirklichkeit fehlt, fehlt ihr das Entscheidende, dass sie nämlich da ist und doch nicht da, dass sie da ist als Insistenz des Wunsches und doch nicht da ist als Existenz in der Welt, dass sie vermisst wird und dass ihr Verlust und ihr Fehlen schmerzt. Man tröstet sich mit der Annahme der Telepathie und Ähnlichem jedoch nach Belieben für sein Unvermögen, wirklich zu sprechen, wirklich zu begegnen. Und der Trost ist gut, da wo er als Leiden des Scheiterns an den eigenen Wünsche empfunden wird. Im harten Kern des Trostes ruht jedoch der Wunsch, vermögend zu sein zur Kommunikation, zur Begegnung, sich zu entfalten in die Existenz. Der Wunsch will nicht vertröstet sein, er soll erfüllt werden. Er ist auch immer schon erfüllt, manchmal aber schmerzlich im Leid, in diesem Riss der Spannung zwischen Insistenz und Existenz. Oft wird dieser Schmerz betäubt, weil man ihn nicht mehr erträgt, betäubt mit Alkohol, Drogen, aber auch im Rausch der Arbeit, des Vergnügens, im Wahn und Geschrei unbarmherziger Ideologien und Sekten und in der unendlichen Zerstreuung und Selbstverhinderung durch den Medienkonsums.

Was also, wenn der Mensch sich entmenschlicht, weil er die Last der Gespanntheit der Kultur und das beidseitige Zerren der Verbindlichkeit nicht mehr ertragen kann, es delegiert und abgibt? Was bleibt dem Staat übrig, als zu versuchen, das Gebäude schöner einzurichten, das Haus schöner zu machen, damit es dem Menschen gefällt darin zu wohnen, er sich darin wohl fühlt und Musse findet. Der Staat versucht, dem Menschen in Museen die Wunder der Kultur näher zu bringen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Wer wollte seiner Frau verbieten, das Haus der Ehe schöner einzurichten.

Was aber, wenn derselbe Staat sieht, dass der Mensch sich in diesem schönen Haus plötzlich herrisch benimmt, er es sich bequem macht und dazu noch denkt, er hätte dies verdient, er hätte gar ein Recht darauf sich an den Vorführungen der Kultur, den Möbeln des Hauses zu ergötzen. Was, wenn er sich mit dem Erlebnis der Vorführungen brüstet, und nicht daran denken mag, das dies noch nicht Kultur ist, sondern erst Vorführung von Kultur. Was dann?

In der eingangs erwähnten Radiosendung wurden die Resultate einer Studie erwähnt, welche die Stiftung "Lesen" in München in Auftrag gegeben hat. In Deutschland leben vier Millionen Analphabeten und unter Ihnen immer mehr sogenannte "sekundäre Analphabeten", Menschen, die in der Schule Lesen und Schreiben gelernt haben, die es aber wieder verlernt haben. Dann wurde eine Studie der US-Army vorgestellt, welche die Sprach- und Lesefähigkeiten der jüngsten Generation von US-Soldaten untersuchte. Resultat: 40 % der Soldaten können die Gebrauchsanweisungen ihrer Kanonen, die sie einsetzen, nicht mehr lesen, geschweige denn verstehen. Deshalb ist man dazu übergegangen, die Gebrauchsanleitungen in Comicform abzufassen.

Man kann heute nicht beurteilen, ob der "Event-" oder "Erlebniskult" Ursache ist dafür, dass heute in den USA 30 Millionen Menschen leben, die sogenannte Sekundär-Analphabeten sind. Vielleicht ist der Erlebniskult bloss eine Folge der zunehmenden Sprachvergessenheit des Menschen in den letzten Dekaden dieses Jahrhunderts. Keineswegs betrifft dies nur die sogenannte "lower class". Über den Bildungszerfall der Mittelschul- und Universitätsabgänger wurde schon verschiedentlich berichtet. Dort zeigt sich eine Spielform des Analphabetentums, nämlich diejenige, dass man den Jargon der eigenen Spezialfachrichtung zwar technisch brilliant beherrscht und anwenden kann, aber dennoch unfähig ist, fachübergreifend, sprich: in allgemeinen Begriffen zu kommunizieren.

Wenn wir die Entwicklungen in der jüngeren Kunst betrachten, können wir feststellen: Die Installations-, die Video- und Internetkunst sind Versuche, dem Menschen neue Erlebnisräume zu öffnen und manchmal gelingt es sogar, den betrachtenden Menschen zu involvieren in das Geschehen der Kunst in seiner eigenen Tiefe. Manchmal heisst hier: Selten. Zumeist sind nämlich die Künstler und erst recht die Kuratoren, Intendanten und Kritiker unfähig, in allgemeinen Begriffen zu kommunzieren, sondern brüsten sich mit der technischen und selbstähnlich-dekorativen Spielerei ihres unbedachten, selbstgefälligen Jargons. Das ist hart ausgedrückt, aber ich könnte haufenweise Beispiele nennen. Dies sage ich nicht in der Meinung, es selber besser zu wissen und besser zu können.

Seit 1995 arbeite ich intensiv, gemeinsam mit Thomas Primas, an den Bildweg-Projekten, - einem öffentlichen Forschungsprojekt der Kunst, wenn man so will - und eben konnten wir in Braunschweig ein kleines Jubiläum feiern: Der zehnte Bildweg, und die zehnte Geschichte. Hinter diesem Bemühen, den "Event-" und "Erlebniskult" nicht einfach als Unernst des kommerziellen "Veranstaltens" zu verwerfen, sondern den Menschen in seinem Drang nach Leben, Sinn und Sinnlichkeit aufzunehmen, steckt letztlich eine Überzeugung, die ein "a priori" ist, eine Voraussetzung, die auch falsch sein könnte: Die Überzeugung nämlich, dass der Mensch mündig wird, in dem Masse, wie die Bilder seiner Welt zur Sprache kommen und sein Sprechen aufgehoben wird in den Bildern seiner Welt; dass sich der Mensch damit bestimmt wird und eine Stimme erhält. Wesentlich an dieser Überzeugung ist die Betonung des "wird", dass Mündigkeit ein geschichtlicher Vorgang ist. Deshalb ist der Bildweg das "Essay" eines Kunstwerkes als geschichtlicher Vorgang.

Ich will Dich aber nicht langweilen mit diesen Zeilen. Gerne würde ich von Dir hören, wie es weitergeht mit dem Projekt der Privatbank. Ruf doch mal an, oder besuche uns bei einem echten Schweizer Fondue in den echten Schweizer Bergen.

mit herzlichen Grüssen

Daniel Ambühl

PS: Schau doch mal rein in meine Homepage. Kein Kunstwerk, aber wenigstens ein bescheidener Anfang. www.danielambuehl.ch

 

 

 

 

 

 

 

 

Zürich willkommen | brief | hf | projekt | geschichte |neu | forum | archiv | links | suchen | home | ? Schweiz