Betreff:
Werte Datum: Sun, 18 Apr 1999 15:35:57 +0200
Von: "Thomas Primas" primas@active.ch
An: "Ambühl" <ambuehl@access.ch>
Lieber Daniel
Inhaltlich gefällt mir das Projekt ausserordentlich. Darüber haben wir ja schon
gesprochen. Der erste Meter hat mich ebenfalls beeindruckt, und das Design der Homepage
ist geglückt.
Über das Motto "Werte verbinden" muss ich mir noch ein paar Gedanken machen.
Werte trennen nämlich auch; sie gehören zu der Kategorie dieser sonderbaren Gesellen.
Sie gehören zur Kategorie der Grenze, tun aber oft so, als würden sie auf wählbar eine
Seite dieser Grenze gehören. Als Tatsachen, als Gegebenheit - zum Beispiel
"Nacht" - gehören sie ja auch auf eine Seite im Gegensatz zur anderen Seite,
dem "Tag". Das sind aber noch keine Werte, sondern Umstände.
Umstände stehen um eine Mitte. Der Umstand Nacht steht um die Mitte: Tag und Nacht. Und
so steht der Umstand Tag um die gleiche Mitte: Tag und Nacht. Die Mitte aber ist die
Grenze zwischen Insistenz und Existenz, zwischen Geheimnis und Äusserung. In der Nacht
äussert sich diese Mitte von Tag und Nacht als Nacht und verbirgt den Tag. Nacht
existiert, und Tag insistiert. Das Insistieren des Tages wird durch die Grenze, die Zeit,
zurückgehalten, so dass Nacht sein kann; und doch wird es auch durch die Grenze, die
Zeit, zugelassen, denn der Tag kommt mit der Zeit. Die
Grenze, die Zeit, ist also die Mitte von Schutz und Wandlung, gleichzeitig sozusagen, aber
damit auch ewig.
Die Zweiheit der Grenze - Schutz und Wandlung - ist eine ewige Zweiheit, eine ewige Mitte.
Die Bibel, die Schöpfung fängt an mit dieser Zweiheit: bereshit. Sie fängt damit an,
aber nicht so, dass sie auf einer Zeitlinie damit anfängt, sondern fängt in die Zeit
hinein damit an, in jede Zeit hinein. Sie fängt von der Ewigkeit her in die Zeit hinein
damit an. Sie fängt damit an, indem sie ein Haus baut, den Buchstaben beth, das Haus, die
Zwei. Ein Haus grenzt das Innere vom Äusseren ab, es ist wesentlich das Abgrenzen von
Innen und Aussen. Dieses Haus der Schöpfung, dieser Tempel dann
auch, ist die Mitte des Lebens: Tod und Leben oder auch Weg und Heimat, Zeit und Sein.
Aber, wenn wir sagen, dass dieses Haus in JEDE Zeit gebaut wird, ist es eigentlich falsch
zu sagen, dass das Haus IN die Zeit hineingebaut wird. Es wäre besser zu sagen, das Haus
würde ALS Zeit gebaut. Aber auch das reicht nicht aus, um
das Paradox der ewigen Zweiheit zu fassen. Das Haus ist Weg, Zeit also, UND Heimat, Sein
also. Das Haus, die Zweiheit, ist ewig, ist die Ewigkeit, Haus Gottes, Baum des Seins und
Baum des Werdens. In der Welt, dem Wachsen des Menschen, erscheint das Haus im Äusseren
als Weg, verbirgt sich im Inneren als Heimat. Gehen tun wir im Äusseren, wohnen tun wir
im Inneren dieses Hauses. Dies ist in der Welt des Wachsens, die Welt des Gesetzes der
sechs Tage so, und sogar am siebten Tag noch, obwohl da das Haus, der Tempel zerstört
ist, verborgen ist. Am achten Tag, die
auferstandene Welt des Zusammengewachsenen, der Gerichteten, wohnen wir im Äusseren und
gehen im Inneren. Wo und wohin gehen wir am achten Tag? In das Innere Gottes, sein
Geheimnis.
Ist das Äussere dieser Welt, die Existenz, das Erscheinen, die Äusserung der Insistenz
also nicht das grösste Geheimnis Gottes? Ist diese Welt des Wachsens nicht die tiefste
Verborgenheit Gottes, dass wir uns ihr am achten Tag im Inneren als Geheimnis nähern? Ist
diese Welt hier nicht das grosse Liebesgeheimnis Gottes, seine Schwäche, seine
Äusserung, seine Krankheit also? Gott ist liebeskrank, wir fehlen Ihm. Und Er fehlt uns,
sehr.
Das Haus, die Zweiheit, ist auf dem Fundament von Gottes Liebesgeheimnis gestellt, und
diese Welt ist die Gestalt dieses Stellens. Die eigentliche Mitte dieser Gestalt, dieses
auf das jesod, das Fundament des "Er Geheimnis" gestellten Hauses, ist diese
Seine Liebe, mehr noch: das Geheimnis Seiner Liebe, das selbst Ihm selbst ein Geheimnis
ist, so dass Er Sich mit uns über diese Liebe wundert und über sie staunt. Die Umstände
dieser Mitte, Nacht und Tag, Gut und Böse, Innen und Aussen, Weg und Heimat, Sein und
Zeit, Kalt und Warm, Einsam und Gemeinsam - alle Umstände sind zwar geschützt, um sich
selbst zu sein, aber wandeln sich, indem aus der Mitte, insistent, die Umkehr geschieht.
Die Nacht sehnt sich nach dem Tag, das Gute nach dem Bösen, das Innen nach dem Aussen,
der Weg nach der Heimat, das Sein nach der Zeit, das Kalte nach dem Warmen, das Einsame
nach dem Gemeinsamen. Und wieder zurück. Die eigentliche Mitte ist diese Sehnsucht, ist
dieses Liebesgeheimnis Gottes. Diese eigentliche Mitte ist der Wert, und im Fluss der Zeit
ist diese Mitte die Quelle des Wertes.
Die Werte in den Umständen, so geschützt sie sein mögen, um sich selbst zu sein,
verwandeln sich von der Mitte der Werte her. Der Schutz der Werte in den Umständen
schützt sozusagen die Wandlung. Der wahre Wert, der Schatz, der schützenswerte, ist in
dieser Mitte als Haus Gottes, Nähe und Distanz, Schutz und Wandlung, Du und ich: Zweiheit
als Doppelheit, als gegenseitig vor dem anderen geschützte und doch in der Wandlung
einige und vereinte Liebespaar Gottes, als Vater und Sohn, oder als Radha und Krishna,
oder als Ich und Er.
Der Baum des Wissens von Gut und Böse, die 4 gegenüber der 1 vom Baum des Lebens, die
Existenz gegenüber der Insistenz, trägt die Frucht der scheinbaren
Unterscheidungsfähigkeit der Werte im Fluss der Zeit, im Fluss der Verwandlungen der
Umstände. Es ist die falsche, vergiftete Frage danach, WAS oder WER etwas oder jemand
ist. Die Antwort kann immer nur ein Vergleich sein, der doch wie Hephaistos, der Pluto,
hinkt und seine Netze über den Mars auswirft, weil der Mars, die Existenz, ein
Liebesverhältnis mit der Aphrodite, der Venus, hat. Die Antwort auf diese vergiftete
Frage nach dem WAS oder WER kann immer nur eine Bewertung sein. Diese Bewertung kann sogar
"richtig" sein in einem Sinne, doch unterschlägt und erschlägt sie stets das
Verborgene, die andere Seite in der Mitte, aus der
doch die Verwandlung kommt, die Umkehr.
Die Frage muss die Frage nach dem WO, nach dem Ort sein. Die Antwort würde dann zwei
Möglichkeiten haben, um sich auszudrücken: von der Mitte her, hierarchisch
weiterfragend, wie sich diese sehnend in die Vielfalt der Existenz und ihrer Umstände
weiterästelt - oder von der Existenz her, hierarchisch weiterfragend, wohin diese weist
und sich sehnt. Am Baum des Lebens hängen diese Antworten als Früchte, denn sie sind
Antworten auf Fragen nach der Sehnsucht, nach der Mitte, nach dem Anfang, dem Haus Gottes,
gestellt auf die Liebessehnsucht Gottes. Die Antworten auf die Frage nach dem WO bewerten
nicht, sondern finden den Wert, den Ort der Begegnung, selbst.
Eine heimatliche Betrachtung der Geschichte muss die Frage nach dem Ort stellen und
Antworten als Werte finden, die das Verborgene in den Umständen, die jeweils andere
Seite, als Geheimnis der Erscheinung, als Heilung der Krankheit "Äusserung"
mitschaut. Diese heimatliche Betrachtung und Gestaltung muss Insistenz und Existenz
verbunden sehen und die Welt und ihre Geschichte als Gesicht dieser ewigen Verbundenheit.
Also nicht: "Werte verbinden", sondern "Werte der Verbundenheit".
Zum Beispiel Geduld und Wagnis: Geduld ist nur Wert von seiner Mitte her, in der auch das
Wagnis wohnt, denn sonst verkümmert sie in Passivität und Fatalität. Das Wagnis ist
ebenfalls nur Wert von der Mitte her, in der auch die Geduld wohnt. Würde sie sonst nicht
in Risikosucht und Rücksichtslosigkeit ausarten? Der Wert ist also eigentlich
"Geduld und Wagnis" (ein Selbst nämlich: ein Verhältnis, das sich zu sich
selbst verhält, rechtens, vor Gott). Der Umstand "Geduld" kann sehr wohl als
"Wert" erscheinen und betrachtet werden, doch muss darin seine Verborgene Seite,
das Wagnis, mitgeschaut werden. Das Wagnis ist in der Tat nicht nur da, wenn die Geduld
sich in Wagnis verwandelt hat, sondern schon im Umstand der Geduld. Diese Geduld muss
geschützt werden vor dem Wagnis, so dass sie sich in es verwandeln kann. Das Wagnis kommt
schon, "zu seiner Zeit", von der Insistenz her. Wenn aber die Insistenz, die
andere Seite, nicht mitgeschaut wird, wird die Erscheinung des Wertes als Geduld
"autistisch", kann zwar mechanisch alle Facetten der Geduld manifestieren, doch
entwertet sich immer mehr, da sie nicht mehr zum Ort der Begegnung, dem wahren Wert,
zurückkehrt, um dort zum Wagnis zu werden. Sie meint vielleicht nun, da sie die andere
Seite verstossen hat, sie müsse etwas leisten, um sich in das Wagnis zu verwandeln. Doch
die Verwandlung kommt schon, von der Insistenz her, dann, wenn die Insistenz nicht
erschlagen wird. Auch das, nämlich die Insistenz nicht zu erschlagen, ist keine Leistung,
sondern eine Sehnsucht. Von dieser Sehnsucht her wird der Geduld die Verwandlung, das
Wagnis, geschenkt. Sie muss nicht aus sich selbst Wagnis werden, sondern es wird ihr
geschenkt. Dieses Geschenk erscheint auf verschiedene Weise: ein anderer kann wagen mit
mir zusammen, ich selbst kann wagen, nachdem der Mut zum Wagnis durch die Geduld hindurch
in mir gewachsen ist, Gott kann anfangen zu wagen für mich und mich in Sein Wagnis
hineinnehmen. Und in der Geschichte sieht man oft, dass eine Generation etwas wagt, für
was eine andere Generation die Geduld war.
Immer ist es aber so: Werte verbinden nicht, weder Geduld noch Wagnis, auch nicht
"Geduld und Wagnis" verbindet, sondern Werte stehen AM Ort der Begegnung und
müssen dort gefunden werden. Werte stehen AM Ort der Begegnung als Zeichen, als Werte der
Verbundenheit.
Deine Objekte auf den Panels können solche Zeichen, solche Werte der Verbundenheit sein.
Insofern sie nicht bewerten, sondern das scheinbar Fehlende mit sich tragen, sind sie
Früchte vom Baum des Lebens.
Herzlichst
Thomas |