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Oberiberg,
4. Mai 1999 Sehr geehrter Christian Rahn Diesen Brief schreibe ich Ihnen nach einem Telefongespräch, das ich heute mit Martin Weber führte und in welchem er mir über die Sitzung zum weiteren Vorgehen berichtete. Martin Weber teilte mir mit, dass Sie den Brief des Stadtpräsidenten nicht herausgeben, sondern mir dessen Inhalt in einem Brief darlegen möchten. Zunächst aber eine grosse Bitte: Lassen Sie sich ihre ehrlichen Willen, aus Anlass des Jubiläums der Bevölkerung der Stadt Zürich etwas zu schenken, nicht vergällen. Ich habe Sie in den Begegnungen, die wir bisher hatten, als einen offenen, direkten und unverstellten Menschen kennengelernt, der sich seine Aufgabe oft schwer genug macht, weil Sie diese Aufgabe ernst nehmen als ein persönliches Angesprochensein in der Gegenwart. Es gibt wohl wenige "Geschäftsleute", die in ihrer Alltagsarbeit in einer solch langen Tradition - und gemeint ist eben das Bewusstsein für die Verbindlichkeit der Geschichte - stehen. Die Verbindlichkeit der Geschichte kennt aber zwei scheinbar gegensätzliche Aspekte: Einerseits im Leid und der Enttäuschung über die schiere Unmöglichkeit die Tradition jeweils mit bestätigter Richtigkeit und aufrichtig in der Gegenwart zu erneuern. Dieses Ungewisse erweckt im Menschen die Gefühle des Befangen- und Gefangensein, von der Tradition gebunden und nicht frei zu sein. Aus der Unerträglichkeit dieses Leids entsteht dann oft ein Antrieb zur Betäubung, indem man den Anspruch und die Verbindlichkeit der Geschichte zum Schweigen bringen möchte - oder die aktive Flucht, indem man den Ort, an dem man verbindlich steht, verlässt, die Geschichte und die in ihr auf Erneuerung in der Gegenwart wartenden Werte alleine lässt, damit die Tradition verwaist und sich der Mensch in eine wertlose Freiheit absetzt, die in diesem Jahrhundert sehr treffend als das existenzielle Nichts in der Zerstreuung erkannt wurde, nämlich: abwesend zu sein für die Welt, und Welt bedeutet: das Wachsen des Menschen. Der zweite Aspekt der Tradition ist derjenige der Geborgenheit; das Gefühl Heimat zu haben und in seinem ganzen Dasein umgriffen und behütet zu sein von der Gültigkeit geschichtlich vermittelter Werte in der Gegenwart. Ein schöner Ausdruck für diese Stimmung ist das Fest. Ein solches Fest möchten Sie feiern, mit Ihren Geschäftspartnern, mit Ihren Familien, Ehefrauen, Kindern, Vertrauten, aber auch eigentlich mit Ihren Vorfahren, Ihren Vätern und Grossvätern, sagen wir doch: mit den Ihnen vertrauten Menschen. Aber im Kerne feiern Sie dieses Fest auch mit sich, nein, nicht nur Sie, sondern jeder Mensch der anwesend ist, feiert dieses Fest auch mit sich, als Versöhnung der verborgenen Werte seiner Soseinsgeschichte mit den exponiert in Raum und Zeit und Materie stehenden Umständen des gegenwärtigen Daseins. Die Schutzlosigkeit des Dastehens in der Gegenwart wird dann im Fest gleichsam aufgehoben vom Vertrauen auf die Eigenart gebenden Werte der Tradition. Die Werte der Tradition erscheinen aber niemals als etwas Handfestes, Greifbares. Man kann kausal nichts mit ihnen anfangen, man könnte auch sagen, sie seien absolut unnütz zur Durchsetzung äusserlicher Macht, Zwecke und Absichten. In einer "unmoralischen Gesellschaft" gelten Werte gar als schlicht störend, da sie die triebhafte und rücksichtlose Durchsetzung des eigenen Willens behindern. Daran ist wiederum zu erkennen: Wo das grundlose Vertrauen in erlebte Werte der Eigenheit gilt, und der Mensch an ihnen festhält, - scheinbar gegen jede äusserlich Vernunft -, da, und nur da ist Gemeinschaft möglich. Die Familie könnte dafür ein Bild sein. Das Festhalten an Werten der Eigenart ist immer ein Persönliches und kann niemals mit Zwang und Machtwillen allgemein und äusserlich und öffentlich gültig gemacht werden. Aus freiem Willen darf der Mensch zum Fest gehen; er darf, er muss nicht aus dem faschistoiden Zwang einer äusserlich nur aufgeführten und vorgeführten Versöhnungsveranstaltung. Unser Geschenk an die Gemeinschaft ist das Vertrauen in die Gültigkeit verborgener Werte unserer Eigenart. Wir sind das Geschenk an die Gemeinschaft. Nur wenn wir zu den Werten stehen, die wir in unserem tiefsten Inneren als die "menschlichen Werte" empfinden, können wir offen sein für den Anderen, die Frau, die Kinder, die Geschäftspartner, die Welt. Ich muss ihnen aber gestehen: Dies gelingt mir auch nicht immer. Mir fehlt es oft an dieser Offenheit, es fehlt mir oft das Vertrauen in diese so unbegreiflichen Werte. Ich sehe, ohne mich zu entschuldigen: Dem Anderen, dem Liebsten und Nahen geht es ebenso. Diese unbegreiflichen Werte sind zudem ständig bedroht von dem, was man die Realität nennt und was man logisch und bewusst und kausal als gnadenloses Räderwerk erkennt, als welches die Welt vermeintlich funktioniert. Diese Welt ist aber gerade dann gnadenlos, wenn wir es sind; gnadenlos aber nicht nur zu den Anderen, sondern gnadenlos zu uns selbst, indem wir die Werte des Menschseins, die wir alle empfinden, verleugnen, uns angewidert oder im Schmerz abwenden, sie loslassen und gerade dadurch den Anderen und uns selbst der Gnadenlosigkeit des nur mechanischen Räderwerks und der nur äusserlichen Gültigkeit der Welt preisgeben. Dies geschieht mir auch immer wieder. Immer wieder ertrage ich es kaum, so nackt und lächerlich dazustehen mit unfassbaren "Werten des Menschseins" und von der Realität verhöhnt zu werden. Immer wieder ist eine grosse Enttäuschung und ein schmerzliches Scheitern da: "Es geht nicht!" Einzig im Schutz der Ehe und der Liebe und der Gemeinschaft mit Freunden scheint es zu gehen, aber selbst da nicht immer. Niemals aber geht es in der Öffentlichkeit. Was ist denn mit dieser Öffentlichkeit? Die Öffentlichkeit ist klar abgeschieden vom Raum der Innerlichkeit, vom Haus der Ehe, der Gemeinschaft der Freunde und Vertrauten. Öffentlichkeit ist der Raum der Unentschiedenheit. Vertrauen und Gnadenlosigkeit wogen in der Öffentlichkeit ungesondert durcheinander. Es ist doch der Raum und die Zeit aller Menschen. Was bei uns in unserer Biografie geschichtlich erscheint, als ein Nacheinander von Phasen der Vertrauens- und Gnadenlosigkeit und Phasen der liebenden Duldsamkeit und Hingabe, erscheint in der Öffentlichkeit als formloses Durcheinander, gleichzeitig und überall. Schauen sie sich ein Abendprogramm im Fernsehen einmal als eine Einheit an und sie werden merken, was ich meine. Geregelt und gemessen wird in der Gesellschaft und Öffentlichkeit nach Masse, Menge und Wahrscheinlichkeit. Das Wort Wahrscheinlichkeit sagt schon, dass sie ein blosser Schein von Wahrheit ist. Die Qualität des Zusammensein von Menschen lässt sich nicht auf einen allgemeinen Durchschnitt menschlicher Eigenschaften reduzieren. Die Gemeinschaft lebt vom einzelnen Menschen. Es kann ein einziger, einzelner Mensch entscheidend sein für die Qualität des Zusammenlebens aller Menschen. Nie aber kann die durchschnittliche, wahrscheinliche Normqualität einer anonymen Menschenmasse entscheidend sein für den Einzelnen. Der Mensch bleibt frei in seiner Entscheidung, und alles, was sich von der Gesellschaft zur Gemeinschaft lichtet, geht von dieser Freiheit aus. Niemals ist die Gesellschaft entscheidungsfähig. Sie bleibt der Raum der Unentschiedenheit. Zuerst muss sich der Mensch entscheiden, für eine Frau zum Beispiel, im Vertrauen, dann erst ist Ehe und Familie und Zusammensein möglich. Die Ehe und die Familie und die Gemeinschaft könnten zwar theoretisch für den Einzelnen entscheiden, vorausgesetzt wäre aber ein verbindliches Dasein all ihrer Glieder. Wann ist dies schon gegeben? Nie aber kann eine Gesellschaft für den Einzelnen entscheiden, da sie nur eine unpersönliche Norm vertritt und den Einzelnen damit unmündig macht, was zugegebenermassen immer wieder geschieht, ja zur Geschichte der Menschwerdung als Bedrohung dazugehört. Die Gesellschaft scheint im Menschen den Wunsch anzutreiben, einer Gemeinschaft anzugehören. Die Auseinandersetzung und das Ringen um das "Gut des Menschseins" tobt im Raum der Öffentlichkeit. Vergessen wir die esoterische Idee der "guten Gesellschaft". Gesellschaft ist ein brutaler Raum. Im Übermut möchte man manchmal mithelfen, einer Seite zum Durchbruch zu verhelfen, man reiht sich ein in eine der Armeen, um für ein Ideal zu kämpfen, in bester Absicht vielleicht und in bester Meinung, edel, unter Einsatz seines Vermögens und seines Lebens sogar. Denoch bleibt die Gesellschaft unentschieden. Wir kommen mit Schrammen und Blessuren zurück ins Haus der Ehe und Freunde, und genau diejenigen, die wir verlassen haben, verbinden unsere Wunden. Manchmal sind wir niedergeschlagen manchmal siegreich. Siegreich wie lange? Wozu haben wir versucht, die Menschheit im allgemeinen gut zu machen, es liegt uns doch eigentlich daran selber gut zu sein, weil daraus genau die Werte der Tradition erwachsen, die uns schon tragen. Das Chaos der Gesellschaft ruft den Menschen an, sich zu entscheiden. Nicht aber, um mit diesem Entscheid die Gesellschaft zu entscheiden. Mit jedem Menschen der sich entschieden hat, wir das Chaos in dieser Welt kleiner und die Ordnung ersichtlicher, weil die Gesellschaft damit in einem kleinen Punkt, am Ort eines einzelnen Menschen, zur Gemeinschaft gewandelt ist. Der Mensch kann sich für sich entscheiden, für sein verbindliches Dasein. Dies ist das grösste Geschenk an die Gemeinschaft und ihr eigentliches Fundament. Entscheidet sich der Mensch für ein Leben nach einer unpersönlichen Norm, wird es andererseits dunkler am Himmel der Gemeinschaft. Ein Stern ist erloschen. Ich wiederhole es hier zur Verdeutlichung: Die persönliche Entschiedenheit hebt die Unentschiedenheit der Gesellschaft nicht auf. In unserem Falle: Dass wir uns in einem Prozess von persönlichen Gesprächen für dieses Kunstprojekt zh2000 entschieden haben, ist in keiner Weise erlösend und überzeugend für die Unentschiedenheit der Gesellschaft und ihrer - ich sage es jetzt zunächst sehr hart - Funktionäre der nach Wahrscheinlichkeitsrechnungen amtierenden Sachverwalter einer normierten Unentschiedenheit. Mit der Ablehnung unserer persönlichen Entscheidung durch die Beamten der Norm ist aber unsere persönliche Entscheidung und die Geschichte ihres Herganges und die Gemeinschaft, die dabei entstanden ist, ebenfalls nicht aufgehoben. Die Norm, zumindest in dem Masse, wie sie sich heute - und auch leider selbst in einer Demokratie - verselbständigt hat, besitzt grosse Macht und sie versucht, mit Wucht die Gemeinschaft des persönlichen Daseins aus dem Wege zu räumen, weil diese persönliche, menschliche Gemeinschaft die Norm in Frage stellt. Und wenn die Gesellschaft es nicht schafft, diese Gemeinschaft zu vernichten, dann dringt sie doch zumindest durch feine Ritzen von überall her in diese Gemeinschaft ein, um ihre allgemeinen, unpersönlichen und deshalb gnadenlosen Normen durchzusetzen und letztlich so durchzusetzen: Gegen die Einzigartigkeit jedes Menschen. Erlauben Sie mir noch einen kleinen Exkurs über die Demokratie, von derer Idee sie bestimmt ebenso überzeugt sind wie ich, deren konkrete Ausbildung mir aber ernste Sorgen bereitet. Zuweilen ist man gar am schwarzen Loch angelangt, sodass man an der Richtigkeit der Idee der Demokratie zweifelt, nur weil es nicht zu gelingen scheint, sie mit bestätigter Richtigkeit zu realisieren. Demokratie ist - wenn man sie geistig betrachtet - der Ausdruck der Überzeugung, dass sich das Leitende und Führende im Volk verborgen hält; dass dieses Führende hier in Fleisch und Blut nicht persönlich erscheint. Deshalb steht am Beginn unserer Schweizer Bundesverfassung auch : "Im Namen Gottes des Allmächtigen". Damit ist das Bezugsystem der nachfolgenden Verfassung kürzestmöglich gegeben: Sie steht unter dem Signum der Verborgenheit. Die Demokratie ist nun eine Staatsform, die diesen christlichen Grundgedanken der verborgenen Leitung auf besondere Weise in die Tat umgesetzt hat. Im Hebräischen ist das Wort für Volk gleichbedeutend mit dem Wort für "Körper". Der Körper, das Materielle, ist der Sitz des Geistes, der sich zwar materiell äussern kann, aber dessen innerste Glaubenssätze, auf denen er ruht, immer verborgen bleiben. Entsprechend in der Demokratie: Das Volk ist der Sitz der Entscheidung, die sich zwar materiell äussern kann, deren innerste Glaubenssätze aber verborgen bleiben. Die Grundwerte des Entscheides verbergen sich in der Demokratie im unpersönlichen Volkskörper. Dies ist eine gewagte Umsetzung von Staatsführung, denn sie fusst auf der Annahme, dass in der vorgehend bereits erwähnten Ermittlung eines Durchschnittes und dessen Setzung als gesellschaftliche Norm, eine führende Qualität liege und nicht nur das, sondern: dass eigentlich Klugheit aus ihr hevorgebracht werde. Ich möchte aber bitten Klugheit hier im Sinne Thomas von Aquins zu verstehen, als das Fundament aller Tugenden. Klugheit ist keineswegs Bescheidwissen, noch äusserliche Gelehrsamkeit und technisches Knowhow. Der schlechteste Schüler kann klug sein vor allen Strebern, wenn er sich im Hinblick auf die Wirklichkeit mit seiner Welt versöhnt weiss. Im Widerstreit der Staatsformen wird oft betont, dass das Gute der Demokratie an ihrer Struktur und ihrer technischen Umsetzung liege. Ich würde vielmehr sagen: Wenn die Entscheide eines demokratischen Vorganges klug sind, dann, weil die klugen Menschen, die zur Wahl schritten, in der Mehrzahl waren. Oder anders gesagt: Vom System der Demokratie her kann noch so viel verändert werden: Solange die Menschen, die wählen, nicht klug sind, wird auch das System der Demokratie und werden auch ihre Vertreter keine klugen Beschlüsse hervorbringen können. Vielmehr wird eine Demokratie, deren Basis keine Klugheit besitzt und keine Vernunft im Hinblick auf die Wirklichkeit, sich früher oder später so entwickeln, dass in ihr die Sachzwänge entscheiden; es wird eine repräsentative und bloss dekorative Demokratie entsteht, deren Stadium wir heute meines Erachtens erreicht , wenn nicht gar schon überschritten haben. Unser Antrieb kann in diesem Zusammenhang wiederum nur sein, die Mündigkeit, das Eigensein und vor allem das Vertrauen in das Gut des Anderssein des Menschen zu unterstützen, ihm Mut zu geben, zu sich zu kommen und zu stehen, was jedoch niemals heissen kann, sich für alle massgebend zu halten. Der Mensch, der bei sich ist, ist gütig. Er hat ein Einsehen in die Wirklichkeit; in diejenige der Gesellschaft, als ein zur unpersönlichen Norm eiferndes Knäuel von Beziehungslosigkeit, und im Hinblick auf die Gemeinschaft, in der sich die Verzweiflung über das Leiden unter einer unpersönlichen Norm lichten kann in der vertrauensvollen, persönlichen Begegnung der Menschen. Erlauben Sie mir noch ein paar Worte zur Kunst und zu ihrer Substanz. Ich möchte Sie aber bitten dies jetzt nicht auf unser Projekt bezogen zu lesen. Dieses hat seinen Weg genommen und es benötigt keinen Anwalt mehr, um es zu verteidigen. Doch gäbe es einiges zu sagen aus der Erfahrung und Beobachtung des Kunstbetriebs. Man könnte mir leichthin vorwerfen ich sagte dies, weil ich meinte nicht Teil davon zu sein, andere würden sich wohl wundern, dass gerade ich dies sage, weil man selbstverständlich annimmt, ich sei eigentlich selber ein Kunstbetrieb. Das Grundproblem der Kunst in der Gesellschaft ist dasjenige, dass der Begriff der Kunst mit den Normen der Gesellschaft absolut unvereinbar ist. Kunst geht von der Person aus und geht zur Person ein. Kunst könnte noch in einer Gemeinschaft von Menschen gelten, da in ihr die Freiheit der Person in ihrem Dasein gegeben ist. In der Gesellschaft aber, wie ich sie oben vom Begriff der Gemeinschaft unterschieden habe, gibt es keine Kunst, weil der Mensch, der sich den Normen einer Gesellschaft unterwirft für sich selbst nicht empfänglich sein will und im Rahmen der Normen der Gesellschaft auch nicht darf. Die Gesellschaft und ihre Verwaltung ist nur deshalb an der Kunst interessiert, weil sie von der Kunst in Frage gestellt werden und daher ein vitales Interesse haben, dieses Gefährdungspotential zu kontrollieren. Ich habe deshalb 1993 in meinem Manifest "Kulturknall" die Trennung von Kultur und Staat gefordert, nicht um die Kultur zu vernichten, sondern um sie wieder dem einzelnen Menschen in die Obhut zu schenken. Aus demselben Grunde habe ich mich - wohl als einziger Künstler - gegen das Kulturprozent im Staatsetat gewehrt, weil die Kunst und Kultur nicht verwaltet werden kann. Diese Aussagen waren bewusst sehr spitz formuliert gewesen, ein Gespräch hat aber in der Öffentlichkeit bisher darüber nicht stattgefunden, was - nach dem bisher Gesagten - eigentlich logisch ist. Die Gesellschaft hat ein geradezu absurdes Interesse an der Kunst: Die reflexartig bei jeder Frage nach einer allgemeinen Norm greifende Unentschiedenheit wird es auch spielend schaffen aus dem Begriff der Kunst eine Norm zu machen, in welcher sich keinerlei persönliche Stellungnahme mehr findet. Alles, was die Kunstgesellschaft dazu benötigt ist ein System des endlosen Verweisens auf Anderes, ohne je auf Eigenes zu kommen; eine Kunstnorm also, die ausserhalb jeglichen menschlichen Daseins und ohne Bezug zu persönlichen Lebenserfahrung in einem unmenschlichen Freiraum schwebt, im konkret und abstrakt Theoretischen und im allgemeinen Nichts, von niemandem wirklich vertreten, von niemandem wirklich geteilt, aber einfach durchschnittlich angenommen, weil es scheint, wenn sich der Mensch einer solchen Norm fraglos unterstelle, für ihn eine gewisse Sicherheit bestünde, nämlich: Dass man bei einer Anfrage der Kunst sofort auf die Norm verweisen könne, ohne persönlich antworten zu müssen und dass man also in der persönlichen Abwesenheit nicht gestört würde durch die Frage der Kunst. Der Verlust der eigenen Stellungnahme wird von der Gesellschaft als Erleichterung empfunden, weil diese Stellungnahme schwierig ist und danach verlangt, dass sich der ganze Mensch einbringe. Mit der Annahme einer vorfabrizierten Norm wird die Gesellschaft getröstet mit einer scheinbaren Gewissheit von Kunst, die nicht mehr persönlich vertreten weden muss, weil die Norm schon selber immer nur auf anderes verweist, nie aber auf den Menschen. Diese Lüge einer Kunstnorm ist so gewaltig und so tragisch, weil sie gerade das Gegenteil von dem ist, was Kunst sein könnte: persönliche Empfänglichkeit für die in der Tiefe des Kunstwerks liegenden und von der Geschichte des Kunstwerks vermittelten Werte. Die nach der Sicherheit einer Norm greifende Gesellschaft und deren Vertreter haben die Substanz ihrer Kunst dahingehend: Die Substanz der gesellschaftlichen Kunst ist die Abwesenheit des Menschen. Dies ist ein weites Feld. Über nichts als das Nichts lässt sich alles sagen. Der gesellschaftliche Mensch traut sich nicht mehr gemäss seinem ureigenen Hinblick auf die Wirklichkeit die Dinge beim Namen zu nennen. Man kann ihm unter dem Vorwand einer Norm alles Mögliche vorwerfen, und er wird blind und ehrfürchtig davor stehen, oder verbissen lächeln, weil die Norm den Menschen blind und stumm macht. Ein untrügliches Zeichen für das Wirken einer unmenschlichen Norm ist der Effekt, dass die verselbständigte Norm alles nur mögliche unternimmt, um auf keinen Fall das persönlich Entschiedene, das Jetztige, das Daseiende, das gegenwärtig und schöpferisch aus dem Menschen Hervorkommende zu würdigen. Die Kunstgesellschaft wird dem Menschen, der in ihr Umfeld gerät, deshalb raten, sich keinesfalls auf das eigene, persönliche Urteil zu verlassen, geschweige denn, sich auf die nahen, gegenwärtigen und persönlich vertrauten Künstler zu verschwenden, sondern die ISO 9002 geprüften Kandidaten der gesellschaftlichen Norm zu wählen: Verstorbene Künstler, die schon im Rahmen der Kunstwissenschaft schubladisiert sind, oder - wenn lebend - durch sorgfältige Normierungen der Gesellschaft genehm erscheinen. Nur ja nichts, wozu Sie persönlich und aus Ihrer ureigenen Biografie und Geschichte heraus stehen könnten. Das würde doch die Norm in Frage stellen, wenn Sie, Herr Rahn, sich plötzlich anmassen würden, persönlich zu entscheiden und persönlich zu vertreten, was für Sie Kunst sei. Der Kunstgesellschaft ist dann jedes Mittel recht, um Ihnen klar zu machen, dass Sie keinen Kunstverstand haben und keine Kriterien für ein an einer gültigen Norm orientiertes Werturteil. Noch nie aber ist in dieser Welt etwas Menschliches erwachsen und noch nie ein Kunstwerk entstanden aus der Gesellschaft heraus; noch aus der Erfüllung einer Norm heraus; noch aus einem Urteil gemäss einer Norm. Und noch nie ist etwas Menschliches und noch nie eine Gemeinschaft erwachsen, die nicht zugleich gegenwärtig und vom persönlichen Entscheid getragen wird. Die Substanz der Kunst ist für mich persönlich ganz klar. Es ist die Person des einzeln und in empfänglicher Offenheit in der Gegenwart stehenden Menschen; des Menschen, der frei spricht und frei schweigt und zuhört. In diesem Sinne wünschte ich mir im weiteren Vorgehen zur Gestaltung Ihres Festes, dass ich Sie weiterhin so offen und direkt und persönlich antreffe, wie in den bisherigen Begegnungen. Es wird wohl so sein, dass wir in unserem Leben noch vielen Funktionären einer abstrakten Norm begegnen werden und enttäuscht sind, über die Abwesenheit eines Menschen, die am Ort des Funktionärs wie ein schwarzes Loch gähnt und nicht nur gähnt sondern machmal dazu noch unverschämt und höhnisch schmunzelt. Diese Enttäuschung ist gut, wenn sie, wie das Wort schon sagt, uns ent-täuscht, uns eine Täuschung wegnimmt, damit wir klarer auf diese Wirklichkeit hinblicken können. Vielleicht kommt von daher der Ausdruck, dass man aus Enttäuschung klug wird, nur dann aber, wenn man die gewonnene Klarheit - und ist sie manchmal auch bitter und schmerzhaft - als Befreiung aus der Beengnis einer täuschenden Vorstellung empfinden kann, wozu es allerdings oft des Beistandes der Nächsten bedarf. So könnte die Enttäuschung plötzlich den Blick über die Weite und Grösse des persönlichen Daseins öffnen. Dass bei solchen Klärungen immer zuerst auch Schmerz da ist, das kann ich auch nicht verstehen. Nein, das begreife ich auch nicht. Und eigentlich wünschte ich mir, dass es nicht so wäre. Ich wünschte mir, dass die Klärung und der Durchbruch zum Eigenen eine reine Freude und voller Lust und ganz spielerisch wäre. Und ich bin im Innersten und im Äussersten energisch dagegen, dass man sich zu sagen erdreistet: "Der Mensch muss leiden, er muss "unten durch", um gut und recht zu werden." Das ist grausamste Menschenverachtung. Ich kann nur sagen: Ich verstehe es nicht. Mein Hinblick auf die Wirklichkeit sagt mir aber, dass es dennoch so ist. Abschliessend möchte ich mich nochmals recht herzlich bei Ihnen Bedanken für das Vertrauen, das Sie mir geschenkt haben. Eigentlich wünschte ich mir, Sie würden der Stadt nun das Buchunikat "Das Fischgericht" schenken, da es den Weg der Kulturschaft, den wir zusammen ein Stück weit gegangen sind, beschreibt. Mir wurde geraten, als ich es in Braunschweig zeigte, es der Herzog-August Bibliothek in Wolfenbüttel anzubieten. Es wäre aber schön, wenn es in Zürich, vielleicht in der Zentralbibliothek bliebe. Mit herzlichen Grüssen und in der Hoffnung auf ein baldiges Familientreffen in Oberiberg
Daniel Ambühl
Ich lege diesem Brief ein Exemplar des Textbandes zum Katalog der Ausstellung in Ascona von 1995 bei. Bei Gelegenheit einer Mussestunde empfehle ich Ihnen das Essay "Ein Brief ....", ab Seite 30. |