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Oberiberg, 29.Juni 1999 Lieber Jean-Pierre Dass die Gespräche immer so kurz sind, damit habe ich mich unterdessen abgefunden. Dass einem aber erst danach jeweils die Gedanken kommen, die eigentlich ins Gespräch gehört hätten: Daran kann ich mich nicht gewöhnen. Ist das eine Erscheinung unserer Zeit? Oder bin ich es, der so nachlässig geworden, dass ich mich schon nicht mehr wehre für die Zeit, die eine ehrliche Frage benötigt, um eine überlegte Antwort zu erhalten? Ob dies allerdings erwünscht ist? Bestimmt ist heute das Spontane höher im Wert, als eine sorgsame und manchmal gar misstrauische Nachdenklichkeit. Ich nehme zur Kenntnis, dass die meisten Leute mit spontanen Antworten durchaus zufrieden sind. Vielmehr: Dass die meisten Zeitgenossen instinktiv abwinken, wenn sie unter der Drohung der Einladung stehen, einer Sache über die oberflächliche, reflexartige Abschilderung hinaus in die Tiefe ( und das heisst letztlich immer: zum Kern ihres eigenen Menschseins) zu folgen. Eine fraglose Zufriedenheit wird reflexartig über alle Dinge gestülpt, aus denen ein Anspruch an das Eigene verlautet. Dieses Überstülpen der fraglose Zufriedenheit wird einem heute leicht gemacht. Es ist die Angst, die plötzlich als Sicherheit daherkommt. Sie wäre, wenn sie denn etwas wäre, (was ich bestreite) sehr selbstbewusst zu nennen. Die Angst ist heute selbstbewusst geworden. Ob man den Irrsinn einer solchen Aussage und einer solchen gesellschaftlichen Realität des Menschen überhaupt noch wahrnehmen kann? Mir graust es, die Konsequenz zu denken: Der Mensch hat sich dieser "selbstbewussten Angst" schon so erfolgreich unterworfen, dass er ihr gar sein Äusserstes zu opfern bereit ist, indem er seine innersten Wünsche verrät und sich zur Überzeugung bekehrt hat, dieser selbstbewussten Angst verdanke er sein Glück. Angst als Glück. Lieber Jean-Pierre. Verzeih mir, aber es ist bei jedem Besuch unglaublich schwierig, Dich unter den Trümmern Deines Amtes wahrzunehmen, unter der Geröllhalde des Funktionierens und der operationellen Instinkte eines Kulturbetriebs, dessen Fundament nicht nur entwichen ist, sondern überhaupt nie da war. Es gibt keine Kultur in der Gesellschaft. Es gibt Kultur beim Menschen, zwischen Menschen als Begegnung und Gespräch, im Menschen als das Gespräch mit sich, oder als Begegnung mit der Welt. So gibt es Kultur nur in einer Gemeinschaft gelebter Begegnungen und dieser gegenüber liegt der Raum der Gesellschaft, der technisch und strukturell verwalteten Unentschiedenheit und Beziehungslosigkeit. Was sich nicht aus dieser machtvollen mechanischen Ordnung der Unentschiedenheit einer zweckhaften Gesellschaft in einem Entscheid des Menschen zur absichtslosen Gemeinschaft wandelt, ist für die menschliche Kultur verloren, oder hängt ihr hilflos an, als vergeudete Vielfalt ungelebter Möglichkeiten des Menschseins. "So ist es eben: In dieser Welt können sich nicht alle Menschen verwirklichen. Es gibt eben Verlierer und Gewinner." In dieser zynischen Art plappert man "cool" daher, wenn man sich einbildet, zu den Gewinnern zu gehören. Diese Art von Ungezwungenheit und Natürlichkeit - wir könnten auch sagen: Instinkt und Reflex - sind hoch im Kurs einer der Natur entfremdeten und wohligen Sachzwängen versklavten Gesellschaft. Diese "Art" ist aber nicht Kunst. Zwar verkauft uns auch die Werbung das Spontane als das Echte. Als Menschen aber hätten wir allen Grund, misstrauisch zu werden. Meist aber geschieht nichts. Sich zu regen hat man dem Misstrauen gründlich verleidet. Es schmollt irgendwo in einer werbefreien Ecke unseres Geistes. Und die Frage ist: Gibt es eine solche Ecke überhaupt noch? Wo ist in unserem Geist noch ein kleiner Flecken, der nicht von eingebildeten Gewissheiten betäubt und von bloss gespielter Bescheidenheit, Dienstbarkeit und Genügsamkeit erblindet ist? Du hast mich gefragt, ob es schon einmal gelungen sei, Geschichte künstlerisch darzustellen. Und ich habe Dich zuerst gefragt, was denn "gelingen" heisse, und danach: ich hätte zumindest versucht, Geschichte künstlerisch darzustellen, und wenn es nicht gelungen sei, sei ich meinerseits bereit, mein Unvermögen zuzugeben. Im Kern aber kann Kunst und Geschichtsschreibung und die Darstellung von Geschichte in der Kunst nur gelingen mit dem Betrachter und Leser und Hörer. Die Kunst kommt nicht nur vom Können des Künstlers, sondern ebensosehr vom Können dessen, der das Kunstwerk betrachtet. Diese Aussage ist zwar eine Banalität. Dass man aber heute gerade über das Offensichtlichste und Banalste mit buddhistischer Lockerheit hinwegtrampelt, als seien es nur leere Sprüche, die das Denken und Verhalten des Menschen in keiner Weise zu binden vermögen, zeigt, wie gedankenlos der Mensch derzeit unterwegs ist, wie wenig er sein Denken ernst nimmt, respektive, dass für einen derart selbstverlorenen Zeitgenossen Freiheit eigentlich nur heissen kann, nicht mehr von der Vernunft gebunden zu sein. Und Vernunft meint hier das Vermögen des Menschen das verborgene Eigene als etwas Objektives zu vernehmen, welches dem erscheinenden subjektiven Nicht-Ich gegenübersteht. Ist der Mensch von solcher Vernunft entbunden, kann es soweit kommen, dass er sich anmasst, über das Gelingen eines Versuches urteilen zu können, ohne sich des eigenen Scheiterns (und der eigenen Hoffnung auf Gelingen) bewusst zu werden. In einem demokratischen, oder sonstwie verwaltungstechnischen Verfahren wird stets verlangt, das Können der Kunst allein beim Künstler zu suchen, und bei ihm das Gelingen irgendwie gültig "festzumachen". Dies ist ein irrsinniges und unmenschliches Verlangen, das sich daher dem einzelnen Menschen darstellt mit der Macht der Normalität "etablierter Praxis", ihn zwingt zur fraglosen Zufriedenheit mit dieser Praxis der Norm, oder verführt, und letztlich auf das eine Ziel hinsteuert: dass der Mensch angesichts dieser Übermacht zugebe, seine Angst, sei sein Glück. Gerade wegen dieses Verfahrens kann Kunst in der Gesellschaft nie gelingen. Es gibt sie aber dennoch. Die Spannung zwischen Angst und Glück wird heute meist reflexartig durch den Konsum eines Produktes kurzgeschlossen. Man schliesst eine Versicherung ab, impft sich gegen dies und das, sucht das Schreiben einer Kommission, die einem etwas bestätigt, was man nicht bestätigen kann, usw. . Dadurch wird die antagonistische Struktur der Begriffe Glück und Angst, aus welcher die Spannung des Lebens und der Antrieb zur Begegnung erwachsen könnte, eingeebnet. Das ginge ja noch, wenn es nur die Begriffe wären, die so eingeebnet würden. Was dabei aber eingeebnet wird, ist die Lebensspannung des Menschen. Sie wird reduziert auf die Gleichung Angst + Produkt = Glück. Damit existieren Angst und Glück nicht mehr als einander widersprechende Eckpunkte eines akausalen Spannungsfeldes. Angst und Glück werden in eine kausale Gleichung gezwungen, ihre Widersprüchlichkeit verneint. Der Widerspruch wird materialisiert, früher hätte man gesagt "verdinglicht", eine Theorie, ein Produkt, ein System oder sonstige Gegenstand gewordene Lügen an den Ort gestellt, in denen der Widerspruch gelöst scheint. So ist es auch weithin mit der Kunst. Und der Kultur. Sie wird als Genussmittel zur Einebnung des Widerspruches zwischen Angst und Glück gepriesen. Und gerade da, wo diese Kunst sich als Verschärferin der Widersprüche gebärdet, ist sie meist nur willkommener Bitterstoff, der die Verdauungsstörungen des Publikums lindert, das sich im Blick auf das bildhafte Unglück glücklich wähnt, und deshalb von den Bildern des Unglücks nie genug bekommen kann. Selbst da, wo die Kunst sich als Hinweis auf diesen Widerspruch begriffen haben will, bleibt sie an sich ein Zeichen ungelebten Lebens. Ein Produkt - und auch ein Kunstwerk - könnte zwar das Ringen um das Ertragen der Widersprüchlichkeit zwischen Angst und Glück im Leben dessen, der das Produkt herstellt, zum Ausdruck bringen. Doch wird dieser menschliche Ausdruck dann sofort vernichtet, wenn der Betrachter das Wagnis der persönlichen Begegnung mit der dargestellten Frage ablehnt und stattdessen mit dem Anspruch auf irgendwie bestätigte, allgemeine Gültigkeit nur auf das Produkt zugreift. Dieser auf Allgemeines und auf Normen fixierte Betrachter besitzt dann zwar ein Produkt, das er ohne Rücksicht auf sich selbst, anbeten oder beleidigen, verkaufen oder vernichten, benutzen oder missachten kann. Die Kunst aber, deren Gelingen an ihm läge, ist in ihm abgetrieben, die persönliche Offenheit und Empfänglichkeit angstvoll verhütet. So ist es auch mit der Geschichte. Ihre Erzählung kann nur in dem Masse gelingen, als der Zuhörer frei ist, sich ihr in seinen persönlichen Erfahrung, seinem Denken und seinem Nichtbewussten zu öffnen und da etwas von ihrer Wahrheit oder Lüge zu empfinden. Die Annahme aber, in der Erzählung von Geschichte und Geschichten liege als ihr Sinn ein eindeutiges kausales System verborgen, welches man im dualistischen Diesseits von Raum und Zeit zur Erreichung von Zwecken und Absichten verwenden könnte - diese Annahme hat keinen Begriff von Sinn und Geschichtlichkeit. Wiederum ist eine solche eindimensionale Sichtweise der Geschichte einzig auf die Einebnung des Widerspruches zwischen Angst und Glück ausgerichtet. Geschichte als behavioristisches System ist ein Betäubungsmittel. Es wundert mich nicht, dass sich die Frage nach der Kunst im öffentlichen Raum derzeit gerade an den "Bedürfnissen" nach Denkmälern zur Erinnerung an menschliche Katastrophen entzündet, Holocaust, Shoa, Krieg. Das grosse Unglück und die Vernichtung des Menschen findet doch auch heute noch statt in diesem öffentlichen Raum, im Raum der Gesellschaft, die mit technischen Mitteln und allgemeinen Normen die drängesten Daseinsnöte der einzelnen Menschen betrieblich verarbeitet. Diese zivilisatorische Notdurft steht immer in Gefahr zu technischer Perfektion und Macht zu gelangen, sodass sie sich immer unverhüllter anschicken kann, ihre Voraussetzungen auszulöschen, sich als abstrakter allmächtiger Apparat verwalteter menschlicher Durchschnittsnormen zu verselbständigen und damit den einzelnen Menschen, von dessen Dasein sie einst ihre Berechtigung bezog, zu unterwerfen und vernichten, indem sie dem Einzelnen ihre unmenschliche Norm aufzwingt. Diese Mechanismen gelten auch für den Kulturbetrieb, der im öffentlichen Raum immer nur in Form der Zensur, oder behavioristischer Vorgänge erscheinen kann, und - ob eingestanden oder bestritten -immer mit dem systemimmanenten Willen auftritt, seine eigene Norm gegenüber dem individuellen Träger der Kultur durchzusetzen. Dazu kommt, dass ein mechanisches System von Vorschriften, Regeln und Gesetzen kein Geschichtsbewusstsein in einem menschlichen Sinne hat. Das System hält sich selbst für das stets aktualisierte Resultat der Vernunft menschlicher Geschichte. Wie könnte eine so strukturierte Gesellschaft in ihrem öffentlichen Raum zulassen, dass etwas, was sie als Mahnmal für vergangene Katastrophen aufstellen möchte, sie zugleich in der Gegenwart anklagt?
mit herzlichen Grüssen Daniel
PS: Die Frage der Möglichkeit des Gelingens, Geschichte in der Kunst darzustellen, ist zwar nicht beantwortet, aber geschichtlich dargestellt in der Homepage: http://www.zh2000.ch Darin findet sich auch ein Brief an Dr. Christian Rahn vom 4. Mai, der vielleicht einiges, was in diesem Brief zu kurz abgehandelt wurde, noch weiter zu erhellen versucht. |