Daniel Ambühl   Steintisch Verlag   Bücher   Das Fischgericht   Bestellung

Ich zog mich in den Schlaf zurück, dorthin, wo mein schreckliches Tun für einmal Ruhe gab, so dass die leisen Geschichten des Schmerzes mir erzählten, was mit anderen Ohren zu hören und mit anderem Verstand zu verstehen war. Da träumte es mir von vier Brunnen. Mir wurde gewahr, dass ich auf einer Anhöhe stand und auf eine Ansiedlung hinuntersah, die von vier Brunnen beschützt war. Sie bildeten wie die vier Ecktürme einer unsichtbaren Stadtmauer ein Rechteck. Der Traum hat eine merkwürdige Weise des Erzählens. Die Dinge in ihm scheinen wie durchsichtig zu sein, die äussere Erscheinung tritt sonderbar zurück, und die inneren Verhältnisse, gleichsam ihr Wesen, öffnen sich in neuen Traumsequenzen, in denen sie sich selbst auf die Bühne einer eigenen Geschichte stellen.
Von der Wichtigkeit des Rückzuges in die Einsamkeit des Traumes und der stillen Gedanken erzählt eine chassidische Geschichte: Ein Mann verzweifeIte trotz der fortschrittlichen Kultur seines Landes ob des Egoismus und der Nichtigkeit, ob der Bedrohung durch das Nichts. Er zog sich in eine Höhle zurück und dachte nach über das Geheimnis der Kultur. Danach kam er wieder in die Welt zurück und versuchte, an der Kultur teilzunehmen und sie zum Blühen zu bringen. Doch brachte er in jede Begegnung, in sein ganzes Tun und Denken etwas aus dem Traum, der Höhle seiner Einsamkeit. Was ist es wohl, was er dort gefunden hat?
Ein nordisches Märchen erzählt von einem Milchbauern, der sich nach einer lieben Frau sehnte. Eines Tages, er war gerade auf der Wiese bei seinen Kühen, fiel vom Himmel her eine Leiter, auf der ein wunderschönes Bauernmädchen hinunterstieg. Sie trug einen Korb mit einem geflochtenen Deckel bei sich und begrüsste den Bauern herzlich. Dieser freute sich über alles und nahm das Mädchen mit zu sich. Er bat um ihre Hand, und sie willigte unter der Bedingung ein, dass er nie in den mitgebrachten Korb schauen dürfe. So ging eine lange Zeit des Glücks vorüber, doch den Bauern wunderte es sehr, was wohl in dem Korb verborgen sei. Eines Tages konnte er nicht mehr widerstehen und öffnete den Deckel. Nichts, aber auch gar nichts war darin zu finden. Am Abend erzählte er der Frau reuig von seiner Tat. Diese wurde sehr traurig und sagte unter leisen
Tränen: «Nicht, dass Du in den Korb geschaut hast, bricht mir das Herz; ich habe gedacht und auch gehofft, dass Du es tust. Aber dass Du darin nichts gesehen hast! » Sie ging fort und kam nicht wieder .
Der Erzähler zieht sich nun also zurück in eine andere Schau der Dinge.
Er lässt die Schuldhaftigkeit seines eigenes Tuns für einmal hinter sich und versucht, vor sich in den Blick zu bekommen, welche Schätze in der Welt noch liegen, die zu heben es Wert sein könnte. Unsere eigene Schuld gegenüber dem Wachsen und Blühen der Kultur, unser ungeduldiges Tunwollen für einmal bleiben zu lassen, ist entscheidend, um zur Ruhe und Gelassenheit zu kommen, die notwendig sind für die Schau auf eine neue Möglichkeit, eine neue Welt.
Er sieht von einer Anhöhe, aus der Distanz also, auf eine Ansiedlung, der Grundform einer Gemeinschaft. Eigentlich betrachtet er den Buchdeckel mit seinen vier Ecktürmen. Doch er merkt gleich, dass die Elemente dieser Anordnung nicht wie üblich auf ihn wirken. Sie werden gleichsam durchsichtig, und im Masse, wie die eigene Willenshaltung im Zurücknehmen des Tun- und Eingreifenwollens abnimmt, wird auch die Willenshaltung der Dinge schwächer, ihre reale Erscheinung und deren Forderungen. Ein Theater beginnt auf einer Traumbühne, auf der sich nun das Wesen der Kultur entfalten kann.

zurück                             nächste Seite