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Alisha 
 

Ich weiss, Du kannst die Worte noch nicht verstehen. Aber Du verstehst noch so, wie es auch ohne Worte geht. Du hörst zu, Du siehst zu, Du trinkst an der Brust Deiner Mutter. Was brauchst Du mehr um zu verstehen? Jetzt bist Du in unserer Welt. Und wir sind plötzlich zu dritt. Ja, erst Du machst aus der Zweiheit der Liebenden wieder eine Eins. Und Du hast es weder gewollt noch mit Absicht getan. Aber Du bist es. Da hingestellt als Mitte zwischen Azita und mich.

Du hast schon vorher unsere Stimmen gehört, die Musik die wir gehört haben, die Geräusche der nächsten Welt. Doch nun wirst Du sie auch sehen. Und Du wirst merken: Das war kein Traum, das ist so in dieser Welt. Es gibt die beiden wirklich, die Du reden gehört hast. Es gibt Deine Mutter, die Dich in ihrem Schosse trug und es gibt den Vater, der bei Ihr war. Es gibt diese Welt. Ist das nicht verrückt? In den vergangenen zehn Monaten warst Du ganz alleine in diesem warmen Atlantis. Doch jetzt bist Du in dieser Welt, von der Du nur geträumt hast. Aber Alisha, Du wirst auch bald merken, es gibt da noch eine Welt, eine von der wir alle zusammen träumen. Es ist die nächste, die Welt danach, wenn es aus dem Schoss dieser Welt hinausgeht. Die Stimmen hast Du sicher auch schon gehört, ja wir haben sie auch gehört, aber gesehen haben wir sie noch nie. Sie scheinen uns so weit weg, diese Stimmen aus der anderen Welt. So viele sind hier schon gegangen in Blut und Aufruhr und Verzweiflung und Schmerz und Krieg der Geburt. Sie sind uns genommen worden, doch sie sind in der anderen Welt, nach der wir uns alle sehnen, obwohl wir es hier möglichst gemütlich haben wollen. Wir wissen ja nichts über das, was nacher kommt, alles ist bloss Vermutung.

Alisha, Du goldenes Mädchen, Du liebster Liebling dieser Welt, nimm an, dass wir da sind für Dich, nimm bitte an, dass wir Dir nichts von dem Nachher geben können. Wir stecken mit Dir mitten drin. Nun sind wir alle zusammen im Schosse dieser Welt, Drillinge für die Welt danach. Gott hat uns diese Welt geschenkt, dass wir wieder zu ihm kommen. Ja, es kommen alle zu ihm. Alle. Und sie wissen alle nicht, wie er aussieht. Sie habe nur in stillen Momenten von ihn gehört. Wir, als Du zu uns kamst.

Alisha. Du hast mich zum Leben geführt. Du hast mir die Augen geöffnet, weil Du mich siehst. Du hast mich Hörend gemacht, weil Du mich hörst. Und doch bleib ich Daniel, Dein Vater nur hier, der, der Dich nicht verdient hat, der Deiner nicht würdig ist. Aber ich liebe Dich auch. Und Alisha, Du hast deine Mutter zum Leben geführt. Du hast Ihr die Augen geöffnet, weil Du sie sahst. Du hast sie Hörend gemacht , weil Du sie hörtest. Und doch bleibt sie Azita nur hier, die, die Dich nicht verdient hat, die Deiner nicht würdig ist. Aber sie liebt Dich. Wir lieben Dich.

 Du hängst jetzt an einer viel feineren Nabelschnur, die Dich ernährt, die Azita ernährt und mich ernährt. Und in der Welt jenseits dieser Welt. Da steht er, Gott, wie der Vater neben seinen Kindern. Er liebt sie, aber er hat sie mit einer Welt verbunden, in der er selbst nur mit seiner Liebe helfen kann. Sonst nicht. Er hat uns nicht verdient. Er hat sich in seiner Liebe verschuldet für uns.

 

 
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