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13.9.1995
von Thomas Primas Das
Alte zurücklassen. Etwas Neues beginnen. Das Neue hat bereits begonnen.
Nun aber einsteigen auf diesen Zug. Der Zug ist der Vollzug des Ziehens,
der Sehnsucht. Nicht nur ich möchte, dass die Wünsche erfüllt werden.
Die Wünsche selbst möchten erfüllt werden. Der Einzige, der dem im Weg
steht, bin ich. Der Wunsch ist Ausdruck der Gestalt. Man kann sie nur
absichtslos erfüllen. Indem wir sie mit unserem Eigenen, mit unserem
Leben erfüllen, erlösen wir die Gestalt. Das ist die grosse Macht der
Menschen. Die Absichten, Vorstellungen, vom Willen angetrieben, gehören
aber zur Erfüllung. Sie bilden unser bewusstes Tun. Und wenn wir offenständig
sind gegenüber den Zeugnissen des Unbewussten, des Verborgenen, die in
unserem Tun auftauchen, dann wird auch die Gestalt erfüllt, erlöst. Der
Mensch ist die Verbindung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, dem
zeitlich Absichtsvollen, Berechnenden und dem ewig Wirkenden in der
Gestalt. Das ist dann Begegnung, das ist Gestalt. Im Vollzug der Gestalt
erfüllen und erlösen wir sie - und uns und die ganze Welt. Um
die Notwendigkeit, die von der Gestalt ausgeht, zu erfüllen, ist es
notwendig, die erzeugte Bewegung dieser Gestalt, das Subjektive nämlich,
zu berücksichtigen. Berücksichtigen ist richtig: Rücksicht nehmen
darauf. Das ist nur möglich im Rückblick, in der Erinnerung, in der
Wahrnehmung der Bedingungen dieser Bewegung, des Subjektiven, des
Empfindens, Fühlens, Wünschens, Glaubens und Sehnens. Diese Rücksicht,
dieser Rückblick ist Reflexion. Reflexion hat doch etwas mit Rückbiegen
zu tun, hat auch etwas mit Religion zu tun, mit dem Religiösen. Wenn
ich das Subjektive berücksichtige, um den Notwendigkeiten der Gestalt auf
die Spur zu kommen, muss man sich gleichermassen von der Geschlossenheit
der eigenen Subjektivität entfernen. Erst dann ist Erfahrung möglich.
Diese Entfernung von der Geschlossenheit der eigenen Subjektivität ist am
besten möglich im Gespräch, im Austausch, in der Vermittlung. Erst durch
die Bildung einer eigenen aussersubjektiven geistigen Substanz - Bildung
schlechthin - ist diese Entfernung auch in der Einsamkeit erträglich. Im
Masse diese Substanz wächst, die die Reflexion in der Einsamkeit möglich
macht, wächst auch die Macht des Menschen. Das ist dann Freiheit.
Freiheit ist nicht Bildung, schon gar nicht Wissen, doch Bildung führt
aus dem Bereich der subjektiven Geschlossenheit in den Bereich der
Freiheit, dann, wenn sie eine lebendige ist, wenn sie aus der lebendigen
Begegnung mit dem Schicksal (aus der Gestalt) erwächst. Es
ist also notwendig, grundlegende Gesetzmässigkeiten der Welt zu erkennen
- immer wieder neu zu erkennen, so dass sie lebendig und anwendbar bleiben
- und sie auf die Fragestellung der einzelnen Gestalt anzuwenden, um der
Notwendigkeit der einzelnen Gestalt zu entsprechen. Gleichzeitig ist es
so, dass wir zu den grundlegenden Gesetzmässigkeiten der Welt nur über
die einzelne Gestalt und der von ihrer erzeugten subjektiven Bewegung
gelangen. Überlieferte Traditionen (Religionen, Philosophie, Kult) können
hier nur Hilfestellung leisten. Diese Hilfestellung ist aber entscheidend.
Ohne sie müssen wir „das Banago immer wieder neu erfinden“. Doch ein
Mensch oder eine Zeit kann nicht die ganze Welt in ihrem Sein und ihrem
Werden überblicken und umfassen. Sie hat genügend zu tun, um die
Notwendigkeiten ihrer eigenen Zeit, ihrer eigenen Gestalt zu erfassen. Die
Ahnen und die Zeitgenossen bieten hier Hilfestellung, um auf die Fragen
der jeweils zugewiesenen Gestalt zu antworten. Um
die kleineren und grösseren Fragen der zugewiesenen Lebensgestalt, des
zugewiesenen Schicksal zu beantworten, sind also verschiedene Momente
notwendig, die ineinander verwoben sind und voneinander abhängen. Da ist
zuerst einmal die Wahrnehmung der Gestalt mit allen Sinnen. Die Gestalt
spricht, hören wir auf sie. Die Gestalt erscheint, schauen wir sie an,
usw. Dann können wir ihr gehorchen, Einsicht haben in sie, usw. Dies
vollzieht sich dann - durch die Denkhaltung - im Denken (im Bildfügen),
in der Reflexion und von dort ausgehend wieder im Empfinden und Erfahren.
Das Verborgene der Gestalt offenbart sich und verbirgt sich sogleich
wieder im Unfassbaren, denn eine Gestalt ist nie fassbar. Sie ruht im
Ewigen. Eine Qualität der Gestalt ist das Verhältnis von Fassbarkeit und
Unfassbarkeit, Begreifbarkeit und Unbegreifbarkeit, Offenbarsein und
Verborgensein, einzelner Begreifbarkeit und gesamter Unbegreifbarkeit.
Dieses Verhältnis gilt es grundlegend zu halten, um sich gemäss des Verhältnis
der Gestalt zu verhalten. Ein
zweites Moment in der Beantwortung der vom Schicksal aufgeworfenen Frage
ist die Verbindung dieser Einzelfrage mit anderen Fragen, mit anderen
Gestalten und schliesslich mit den grundlegenden Erkenntnissen über die
Gesetzmässigkeiten der Welt. Die Gestalt selbst weist auf diese
Verbindungen hin. Diese Verbindungen wahrzunehmen und zu vollziehen ist
wesentliche Voraussetzung zur Beantwortung der Frage. Diese Voraussetzung
wird jedoch erst dadurch geschaffen, dass bislang bereits Antworten auf
Gestaltfragen, Schicksalsfragen gegeben wurden und zur Substanz in der
Erinnerung, im Empfinden und im Denken, in der Denkhaltung geworden sind.
Aus dieser Substanz wird geschöpft, um die Möglichkeit zu schaffen, die
notwendigen Verbindungen zu vollziehen. Hier wird eine andere Qualität
der Gestalt angedeutet: Sie ist das Verhältnis zwischen Einzelgeschehen
und Gesamtgeschehen. Ein
drittes Moment schliesslich ist die Klärung, die Bereinigung der
Auseinandersetzung zwischen der eigenen Subjektivität und der
aussersubjektiven Massstäblichkeit, die durch die Infragestellung durch
die Schicksalsgestalt ihren Anfang nimmt. Diese Auseinandersetzung ist
nicht nur ein Problem der Befindlichkeit, sondern zieht sich durch sämtliche
Wahrnehmungsmomente wie Empfindung, Denken, Traum hinein. Zur Subjektivität
gehört auch der Wille zu sein, das heisst in einem geschlossenen, geschützten
Rahmen da zu sein; und zur aussersubjektiven Massstäblichkeit gehört
auch der Wille des Seins zu werden und damit diesen geschlossenen, geschützten
Rahmen aufzuheben, zu durchbrechen. Die Auseinandersetzung ist somit die
zwischen Schutz und Wandlung - eines Individuums, einer gesellschaftlichen
Ordnung oder einer Vorstellung. Sie weist auf eine weitere Qualität der
Gestalt hin: sie ist Verhältnis zwischen Einzelwesen und Gesamtwesen. Die
Klärung dieser Auseinandersetzung ist jedoch erst durch rechte
Wahrnehmung der Gestalt und durch rechte Verbindung in Zusammenhängen möglich.
Ohne sie versinkt die Subjektivität im Treibsand ihrer sentimentalen oder
vorstellungsgebundener Geschlossenheit Jeder
der drei erwähnten Momente zeigt nun schon an, dass es paradoxerweise
jeweils Voraussetzung für die anderen Momente bildet. Es ist der bekannte
„Teufelskreis“. Den Durchbruch aus diesem Teufelskreis kann nur etwas
Voraussetzungsloses bringen. Das einzige Voraussetzunglose in der Welt ist
nun aber gleichzeitig das grosse Ärgernis: Es ist das Vertrauen mit
seinen Mitbewohnern Glauben, Liebe und Hoffnung. Treten wir in dieses Haus
ein, wird der scheinbare Teufelskreis durchbrochen. Gestalt und Wunsch
wird erfahrbar, erfüllbar und erlösbar. Im Kernmoment in der
Beantwortung der Schicksalsfrage, die Haltung des Menschen, zeigt sich das
Mass des Vertrauens. Und wenn wir ein Neugeborenes betrachten, wird uns
klar, dass wir in diesem Haus, in diesem Stall und unter diesem Stern in
die Welt kommen: Vertrauen, Liebe, Glaube, Hoffnung.
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